75. Wer sagt, die Lehre von der Charaktervollkommenheit würde die Heilsgewissheit rauben, predigt eine menschlich erdachte Heilsgewissheit.

Wenn die Bibel lehrt, dass das Blut Jesu (Seine Fürsprache aufgrund Seines Opfers) den Gläubigen zu sittlicher Vollkommenheit führt, wie wir im Hebräerbrief gelesen haben, dann ist jede Art „Heilsgewissheit“, die auf weniger baut, ohne biblische Grundlage und menschlich erdacht. Sie mag für den Moment ein Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit stillen, doch weil sie nicht Gottes Sinn entspringt, stellt sie eine Täuschung dar.

Der Punkt ist, dass „Vollkommenheit“ das Gleiche ist wie „Heil“. Adams und Evas freiwillige „Unvollkommenheit“ am Baum der Erkenntnis hat das „Unheil“ in unsere Welt gebracht. Christus wurde unser „Heiland“, um die Schöpfung wieder „heil“ zu machen und die ursprüngliche „Vollkommenheit“ wiederherzustellen. Wie können wir von der Gewissheit unseres „Heils“ sprechen und gleichzeitig „Unheil“ in unseren Herzen tolerieren und entschuldigen? Der Grund ist, dass sich eine trügerische Erlösungslehre in unseren Gemeinden ausgebreitet hat. Wir hoffen, dass Gott am Ende den „Zauberstab“ herausholt und mit einer magischen Berührung all die Sünden aus unserem Wesen entfernt, die uns ständig überwunden haben, statt dass wir sie überwinden. Diese Hoffnung wird sich nie erfüllen.

Wachen wir lieber jetzt auf, solange Christus noch anklopft und die unendlich kostbaren Güter Augensalbe, Gold und weiße Kleider (= Charaktervollkommenheit) anbietet. Dieses Leben ist die Zeit, in der ein Charakter für die Ewigkeit geformt wird. Es ist für Gott nicht schwer, das in uns zu wirken, aber Er braucht unser Vertrauen und unsere Zustimmung.

AH 16 Du wirst mit demselben Wesen aus dem Grab auferstehen, das du zu Hause und in der Gesellschaft offenbart hast. Jesus verändert den Charakter bei seiner Wiederkunft nicht. Das Werk der Umwandlung muss jetzt getan werden.

1Kor 1,7 Daher habt ihr an keiner Gnadengabe Mangel, während ihr das Offenbarwerden unseres Herrn Jesus Christus erwartet,

8 der euch auch festigen wird bis ans Ende, sodass ihr untadelig seid an dem Tag unseres Herrn Jesus Christus.

Es ist überhaupt keine Frage, dass Jesus dieses hohe und wunderbare Ziel mit jedem erreichen wird, der Ihm vertraut. Eines muss uns allerdings bewusst sein, wenn wir uns für diesen Weg entscheiden: Es wird nicht ohne teils auch harte innere Kämpfe gehen.

COL 331 Christus hat uns nicht zugesagt, dass es leicht sei, einen vollkommenen Charakter zu erreichen. Ein nobler, vollständiger Charakter wird nicht geerbt. Wir bekommen ihn nicht zufällig. Ein edler Charakter ist der Lohn persönlicher Bemühungen durch die Verdienste und die Gnade Christi. Gott gibt die Talente, die Geisteskräfte; wir formen den Charakter – durch harte, unnachgiebige Kämpfe mit dem Ich. Ein Streit nach dem anderen muss gegen ererbte Neigungen geführt werden.

Seien wir nicht überrascht, wenn Stürme der Versuchung und Entmutigung über uns hereinbrechen! Doch in allem wird Christus in größter Fürsorge als der gute Hirte über Seinen angefochtenen Schäfchen wachen und ihnen zur rechten Zeit genau das geben, was sie brauchen.

Ps 23,4 Auch wenn ich wandere im Tal des Todesschattens, fürchte ich kein Unheil, denn du bist bei mir; dein Stecken und dein Stab, sie trösten mich.

Jes 43,1 Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst! Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.

2 Wenn du durchs Wasser gehst, ich bin bei dir, und durch Ströme, sie werden dich nicht überfluten. Wenn du durchs Feuer gehst, wirst du nicht versengt werden, und die Flamme wird dich nicht verbrennen.

74. Der Einzug der Adventgemeinde ins himmlische Kanaan wird bis heute verhindert, weil die Gemeinden eher auf die Vielen hören, die unermüdlich gegen Charaktervollkommenheit predigen, und die Wenigen, die auf Gottes erlösende Macht hinweisen, als Extremisten bekämpfen.

1883 schrieb Ellen White:

Ev 696 Vierzig Jahre lang schlossen Unglaube, Murren und Auflehnung das alte Israel vom Land Kanaan aus. Dieselben Sünden haben den Eintritt des heutigen Israel in das himmlische Kanaan verzögert.

Als Gott fünf Jahre darauf Jones und Waggoner als Seine Boten beauftragte, der versammelten Generalkonferenz in Minneapolis eine wunderbare Botschaft von Christus als liebendem, mächtigem Erlöser vorzutragen, die endlich den Weg nach Kanaan freimachen sollte, stieß diese Verkündigung auf großen Widerstand (siehe These 44 und folgende). Rund 40 Jahre nach dieser Konferenz zog Taylor Bunch, Prediger und Autor, einen typologischen Vergleich zwischen Israels Wüstenwanderung und der ausbleibenden Wiederkunft Jesu seit 1888, und auch dies führte zu Unverständnis und dem Erscheinen diverser Rechtfertigungsliteratur vonseiten anderer Adventisten. Eigenartig, wo doch Ellen White prinzipiell das Gleiche bereits 1883 zum Ausdruck gebracht hatte.

Was denn sonst sollte die Wiederkunft verzögern als „menschliches Versagen“ auf unserer Seite? Für mich ist schwer verständlich, warum wir uns gegen diese Einsicht so wehren. Wer sich mit unserer Geschichte ehrlich beschäftigt, kann meines Erachtens nur zum selben Schluss kommen. Und dahinter steht nicht etwa ein Bedürfnis, die eigene Gemeinde „schlecht zu machen“. Vielmehr ist es unverzichtbar zu erkennen, an welcher Weggabelung wir bzw. unsere Vorväter falsch abgebogen sind, wenn wir unseren Weg korrigieren und am Ende doch noch unser herrliches Ziel erreichen wollen. Deswegen sollten wir Gott dankbar sein, wenn Er uns auf Probleme und Fehler hinweist! Sind sie doch ein Schlüssel für eine hellere Zukunft als Gemeinde und letztlich für den Abschluss der weltweiten Mission, die Christus uns anvertraut hat.

Warum sind wir noch nicht im himmlischen Kanaan? Man kann viel darüber sinnieren, dass das Evangelium noch nicht alle Länder, Sprachen und Völker erreicht hat, dass bestimmte prophetische Entwicklungen noch ausstehen, dass wir noch auf den Spätregen warten etc. Aber all das wird uns nicht entscheidend voranbringen, solange wir den eigentlichen Kern des Evangeliums und des priesterlichen Dienstes im Allerheiligsten – die charakterliche Vervollkommnung der Gläubigen – als fanatischen Irrweg ablehnen.

Mit dieser Haltung beweisen wir eine traurige Unkenntnis des Wesens Gottes – der wunderschönen Harmonie zwischen Seiner Liebe und Seiner Gerechtigkeit. Würde Gott weniger als Vollkommenheit von uns erwarten, wäre Er nicht gerecht, aber würde Er uns weniger als Vollkommenheit schenken, wäre Er nicht Liebe. Doch Er ist beides! Am Kreuz haben sich „Gerechtigkeit und Frieden geküsst“ (Ps 85,11). Das Blut Jesu ist der unübertreffbare Beweis für Gottes Liebe und Gottes Gerechtigkeit – nicht als Gegensätze oder Konkurrenz, sondern als perfekte, göttliche Ganzheit, als das unauslotbare Wunder des göttlichen Wesens. Ohne diese Gotteserkenntnis, die uns „in dasselbe Bild verwandelt von Herrlichkeit zu Herrlichkeit“ (2Kor 3,18), sind wir nicht bereit, Christus „in seiner Herrlichkeit“ (Mt 25,31) zu begegnen.

Israels Prüfung und Versagen bei Kadesch-Barnea, nachdem die zwölf Kundschafter zurückgekehrt waren, hat uns viel zu sagen – mehr, als uns lieb sein kann. Im Eifer des Gefechts kann es ausgesprochen schwer sein, Freund und Feind auseinanderzuhalten. Angst und Verzweiflung machten das Volk blind, sodass sie der plausibel klingenden Lüge der zehn glaubten und die rettende Wahrheit in Form der übrigen zwei Kundschafter „steinigen“ wollten. Ist so etwas auch unter Gottes Volk heute denkbar? Möge der Herr uns Augensalbe schenken.

72. Gerade weil der Neue Bund Vollkommenheit bewirkt, kann Jesu Dienst im himmlischen Heiligtum eines Tages aufhören (Heb 10,1).

Dan 9,24 Siebzig Wochen sind über dein Volk und über deine heilige Stadt bestimmt, um das Verbrechen zum Abschluss zu bringen und den Sünden ein Ende zu machen und die Schuld zu sühnen und eine ewige Gerechtigkeit einzuführen und Gesicht und Propheten zu versiegeln, und ein Allerheiligstes zu salben.

Mt 1,21 Und sie wird einen Sohn gebären, und du sollst seinen Namen Jesus nennen; denn er wird sein Volk erretten von seinen Sünden.

Joh 1,29 Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt!

Christi Menschwerdung, Sein Leben, Sterben sowie Sein himmlischer Priesterdienst dienen dem einen Ziel: den tragischen Einbruch der Sünde in diese Welt mit all seinen schrecklichen Folgen für immer umzukehren – den Fluch der Übertretung auf sich zu nehmen und uns unter Gottes ewigen Segen zu stellen. Daniel prophezeite über den Messias, Er werde der Sünde „ein Ende machen“ und an ihre Stelle für alle Zeiten „Gerechtigkeit“ setzen. Dies geschieht kraft Seines Dienstes im Heiligtum, wo das Blut von Golgatha wirksam gemacht wird.

Heb 9,12 [Christus ist] mit seinem eigenen Blut ein für allemal in das Heiligtum hineingegangen und hat uns eine ewige Erlösung erworben.

Die Grundlage der Erlösung ist Jesu Opfer am Kreuz (Sein „Blut“), doch zu unserer persönlichen Erlösung wird dieses Opfer erst durch Jesu Vermittlung als Hohepriester. Es mag banal klingen, ist aber so essenziell zu verstehen: Heiligung geschieht im Heiligtum. Dort kommt das Blut des Sohnes Gottes zur Anwendung, und von dort geht alles aus, was zu unserem Heil notwendig ist. Deswegen heißt es über die Erlösten im Himmel:

Off 7,14 Sie haben ihre Gewänder gewaschen und sie weiß gemacht im Blut des Lammes.

Wer die „ewige Gerechtigkeit“ erlangt, die der Messias auf diese Erde gebracht hat, und wer nicht, entscheidet sich im Heiligtum. Darum sagt Christus, wenn er seinen Dienst im Heiligtum beendet:

Off 22,11 LUT Wer Böses tut, der tue weiterhin Böses, und wer unrein ist, der sei weiterhin unrein; aber wer gerecht ist, der übe weiterhin Gerechtigkeit, und wer heilig ist, der sei weiterhin heilig.

Solange Christus vor dem Gnadenthron Fürsprache einlegt, kann sich jeder Mensch zu Gott wenden, doch wenn Seine Fürbitte beendet ist, ist der Zustand des Menschen – er sei gerecht oder ungerecht – verewigt. Es gibt da auch keine Grauzone, keine dritte Gruppe von Leuten, die „ziemlich heilig“ oder „fast immer gerecht“ sind. Jeder Mensch wird entweder „böse und unrein“ sein oder „gerecht und heilig“. Das ist einerseits ernst und ernüchternd, andererseits aber auch voller Hoffnung, weil es beweist, dass unzählige Menschen mit den gleichen Schwachheiten wie wir tatsächlich einmal zur zweiten Gruppe gehören werden: zu denen, die nach Jesu unbestechlichem und wahrhaftigem Urteil wirklich „Gerechte und Heilige“ sind, was ja nur andere Begriffe für „Vollkommene“ sind!

Um zu erklären, warum wir im Glauben zu Recht unsere Vervollkommnung erwarten dürfen, stellt Paulus im Hebräerbrief Alten und Neuen Bund einander gegenüber. Der Alte Bund beweist durch seine ständig wiederholten Rituale seine Wirkungslosigkeit gegenüber dem Sündenproblem, der Neue Bund dagegen beweist durch seine einmaligen Handlungen seine enorme Wirksamkeit. Der Alte Bund konnte die Gläubigen nicht vervollkommnen, der Neue Bund tut es! Beachten wir folgenden Vergleich:

Alter Bund Neuer Bund
  • „mit Händen gemachtes Heiligtum“ (9,24)
  • „größeres, vollkommeneres Heiligtum, nicht von dieser Schöpfung“ (9,11)
  • „wahrhaftiges“ Heiligtum (9,24)
  • „Schatten“ (10,1)
  • „Satzungen des Fleisches“ (9,10)
  • „Ebenbild“ (10,1)
  • „Hohepriester geht alljährlich in das Heiligtum hinein“ (9,25)
  • „alljährlich ununterbrochen dieselben Schlachtopfer“ (10,1)
  • „täglicher“ Dienst, „oft dieselben Schlachtopfer“ (10,11)
  • Christus „ist ein für alle Mal in das Heiligtum eingegangen“ (9,12)
  • „ein für alle Mal geschehenes Opfer“ Jesu (10,10)
  • ein Schlachtopfer für Sünden“ (10,12)
  • „alljährlich ein Erinnern an die Sünden“ (10,3)
  • „Ihrer Sünden und ihrer Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken“ (10,17)
  • „Blut von Böcken und Kälbern“ (9,12.19)
  • „fremdes Blut“ (9,25)
  • Christi „eigenes Blut“ (9,12.14)
  • Blut reinigt das „Fleisch“ (9,13)
  • Blut reinigt das „Gewissen“ (9,14)
  • Gaben und Schlachtopfer können den Anbeter „nicht vollkommen machen“ (9,9)
  • Opfergesetz „kann niemals die Hinzunahenden vollkommen machen“ (10,1), sonst hätten die Opferungen „aufgehört“ (10,2)
  • „Mit einem Opfer hat er auf immerdar die vollkommen gemacht, die geheiligt werden“ (10,14)
  • Die wahre „Vergebung“ lässt die Opfer aufhören (10,18)

Gerade der letzte Punkt ist wichtig für unsere Betrachtung: Hätten die Opferungen des Alten Bundes die Anbeter vollkommen gemacht, dann hätten sie aufgehört. Christi Opfer im Neuen Bund dagegen lässt die Opfer aufhören, weil es die Anbeter zur Vollkommenheit führt. Das ist der Kern von der gesamten Argumentation im Hebräerbrief: Der Neue Bund ist in allen seinen Belangen vollkommen: vom Heiligtum über das Opfer bis zum Hohepriester. Deshalb ist dieser Bund auch in der Lage, das hervorzubringen, was über Christus geweissagt worden ist: „eine ewige Gerechtigkeit“ (Dan 9,24).

Fazit: Die Tatsache, dass Christi Mittlerdienst im Himmel eines Tages aufhören wird, sollte uns nicht mit Befürchtungen erfüllen, sondern vielmehr starken Trost geben, weil wir damit sicher wissen, dass Jesu Fürsprache in der Tat die vollkommene Heiligung der Gläubigen bewirkt!

71. Die Verheißung eines neuen, von Liebe erfüllten Herzens ist der Kern des Neuen Bundes. Wer leugnet, dass Jesu neutestamentlicher Mittlerdienst den Gläubigen „für immer vollkommen macht“ (Heb 10,14), lebt noch im Alten Bund.

Jeremia beschreibt den Neuen Bund so:

Jer 31,31 Siehe, Tage kommen, spricht der HERR, da schließe ich mit dem Haus Israel und mit dem Haus Juda einen neuen Bund:

32 nicht wie der [alte] Bund, den ich mit ihren Vätern geschlossen habe an dem Tag, als ich sie bei der Hand fasste, um sie aus dem Land Ägypten herauszuführen, – diesen meinen Bund haben sie gebrochen, obwohl ich doch ihr Herr war, spricht der HERR.

33 Sondern das ist der Bund, den ich mit dem Haus Israel nach jenen Tagen schließen werde, spricht der HERR: Ich werde mein Gesetz [= selbstvergessene Liebe = sittliche Vollkommenheit] in ihr Inneres legen und werde es auf ihr Herz schreiben. Und ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein.

34 Dann wird nicht mehr einer seinen Nächsten oder einer seinen Bruder lehren und sagen: Erkennt den HERRN! Denn sie alle werden mich erkennen von ihrem Kleinsten bis zu ihrem Größten, spricht der HERR. Denn ich werde ihre Schuld vergeben und an ihre Sünde nicht mehr denken.

Als kurze Anknüpfung an These 68: Der parallele Aufbau von Vers 33 und 34 zeigt, dass „Ich werde mein Gesetz auf ihr Herz schreiben“ das Gleiche ist wie „Ich werde ihre Schuld vergeben“. Gottes Vergebung umfasst die vollständige Wiederherstellung von allem, was die Sünde zerstört hat. Diese Vergebung im Sinne des totalen „Wegnehmens“ aller Sünden (These 69) spiegelt sich in den drei Abteilen des Heiligtums wider:

  • Vorhof: Wegnehmen der vergangenen Sünden – Jesus spricht mich frei von jeder Schuld
  • Heiliges: Wegnehmen der gegenwärtigen Sünden – Jesus macht mich stark in der Versuchung
  • Allerheiligstes: Wegnehmen der zukünftigen Sünden – Jesus macht mich fest für alle Ewigkeit

Anders ausgedrückt, geht es in diesen drei Phasen um Vergebung, Veränderung und Vervollkommnung. Der ganze Sinn des neutestamentlichen Mittlerdienstes Jesu im Himmel ist die wirkungsvolle und endgültige Wegnahme aller Sünden, was unweigerlich die Vervollkommnung der Gläubigen mit sich bringt. Im Hebräerbrief lesen wir über die Wirksamkeit von Christi Opfer:

Heb 10,14 Denn mit einem Opfer hat er die, die geheiligt werden, für immer vollkommen gemacht.

Manche deuten diesen Text so, dass unsere Vollkommenheit bereits gegenwärtige Tatsache sei – stellvertretend in Christus, rein zugerechnet. In gewisser Weise stimmt es, dass Gottes zeitloser Blick uns bereits als vollkommen betrachtet, weil Er Zukünftiges vorwegnimmt. Doch zeigt uns der Text selbst, dass die Aussage anders zu verstehen ist, denn die „vollkommen Gemachten“ befinden sich immer noch im Prozess der Heiligung („die, die geheiligt werden“).

Der größere Zusammenhang des Abschnitts bestätigt, dass „vollkommen gemacht“ sich auf die Wirksamkeit von Jesu einmaligem Opfer im Gegensatz zu den ständig wiederholten Opfern des Alten Bundes bezieht, die machtlos darin waren, den Gläubigen im Innern zu verändern. Der Vers sagt, dass auf Golgatha alle Voraussetzungen dazu geschaffen worden sind, „jeden Menschen vollkommen in Christus darzustellen“ (Kol 1,28). Und auch hier, weil es so oft missverstanden wird, bedeutet „darstellen“ nicht, dass Gott uns als vollkommen ansieht, obwohl wir es nicht sind, sondern beschreibt eine Tatsache, die im Gericht für alle offensichtlich gemacht wird. Judas nennt das „hinstellen“:

Jud 24 [Gott] vermag euch ohne Straucheln zu bewahren und vor seine Herrlichkeit tadellos mit Jubel hinzustellen.

Der Geist der Weissagung bestätigt, dass unsere sittliche Vervollkommnung das Fundament des Neuen Bundes ist:

RH, 5.4.1898 Christus zeigte in seinen Lehren, wie weit die Prinzipien des Gesetzes reichen, das vom Sinai gesprochen wurde. Er war ein wandelndes Beispiel für diese Grundsätze, die auf ewig der große Maßstab für Gerechtigkeit bleiben – der Maßstab, nach dem jeder gerichtet werden wird, wenn das Gericht sich setzt und die Bücher geöffnet werden. Er kam, um alle Gerechtigkeit zu erfüllen und uns als Haupt der Menschheit zu zeigen, dass wir das Gleiche tun und Gottes Forderungen in jeder Hinsicht nachkommen können. Durch das Maß seiner Gnade, das jedem Menschen gewährt wird, braucht nicht einer den Himmel zu verfehlen. Ein vollkommener Charakter ist für jeden erreichbar, der danach strebt. Gerade dies ist das Fundament des Evangeliums im Neuen Bund. Jehovas Gesetz ist der Baum, das Evangelium seine duftenden Blüten und Früchte.

61. Unzählige Adventisten können nicht glauben, dass Gott ihren Charakter während ihrer Lebenszeit vervollkommnen will, haben aber keinen Zweifel, dass er dasselbe bei der Versiegelung bzw. Wiederkunft in einem Augenblick tun wird, obwohl die Schrift dies an keiner Stelle lehrt.

Ich kenne viele tiefgläubige, treue Adventisten, vor denen ich großen Respekt habe, die mit dem Thema Vollkommenheit jedoch ihre liebe Mühe haben. Ich erinnere mich an ein Gespräch darüber mit einem Prediger, der für mich in vieler Hinsicht ein Vorbild war. Eine Zeitlang wehrte er meine Argumente ab, doch an einem bestimmten Punkt drehte er sich um 180 Grad (so kam es mir vor) und sagte: „Wir sind ja schon vollkommen.“ Und dann kam der Vergleich mit der Pflanze oder dem Baby, das in allen Wachstumsstadien vollkommen sein kann, auch wenn es noch nicht ausgewachsen ist. (Hier geht es um zwei verschiedene Arten von Vollkommenheit, aber davon soll an dieser Stelle nicht die Rede sein; Studienhinweis Phil 3,12-15.)

Ich nenne die beiden Pole dieses 180-Grad-Phänomens „soteriologischen Präterismus und Futurismus“. Präterismus und Futurismus sind zwei Auslegungsmethoden, die Jesuiten nach der Reformation erfanden, um den Papst von dem Vorwurf reinzuwaschen, er sei der prophetisch vorausgesagte Antichristus. Beide Methoden dienten demselben Zweck: Die unangenehme Wahrheit möglichst weit von der realen Kirche der Gegenwart wegzuschieben – entweder in die ferne Vergangenheit (Präterismus = „hat sich alles schon längst erfüllt“) oder in die ferne Zukunft (Futurismus = „das kommt erst noch irgendwann“).

Oft kommt es mir vor, als würden wir mit der Erlösung das Gleiche machen: möglichst weit wegrücken von unserem realen Leben mit seinen konkreten Gedanken, Worten und Taten – entweder in die Vergangenheit („wir sind schon vollkommen“) oder in die Zukunft („das macht Jesus dann bei der Wiederkunft“). Ist das Evangelium wirklich so schwach, dass es vor dem Anspruch moralischer Vollkommenheit in die Knie gehen muss? Kann ein Christ kein ehrliches Resümee seiner Nachfolge wagen, keinen ungeschminkten Blick auf seine Lebensrealität und den Vergleich mit Gottes Maßstab der Gerechtigkeit – dem ewigen Gesetz selbstloser Liebe? Je abstrakter, je sachgebundener, je losgelöster von unserer Person Rechtfertigung und Erlösung geschehen – irgendwo weit weg im Himmel –, desto tiefer können wir durchatmen und desto größer ist unsere „Heilsgewissheit“? Das scheint mir doch ein sehr zerbrechlicher „Seelenfriede“ zu sein.

Und es vermittelt ein sehr fragliches Gottesbild – von einem Gott, der uns mit großartigen Zusicherungen aufmuntert, der Seine befreiende und heilende Macht aber bis ganz zum Schluss aufbewahrt; von einem Gott, der uns zum Gehorsam ermutigt und gleichzeitig schon weiß, dass das so richtig gar nicht klappen kann; von einem Gott, der offenbar „interessiert zuschaut“, wie wir uns abmühen, unseren bösen Neigungen gegenzusteuern, um dann nach 50, 60, 70 Jahren mit einer einzigen Berührung seines „Zauberstabs“ herbeizuführen, was Er eigentlich von Anfang hätte tun können – wenn Er nur gewollt hätte …? Welchen Sinn hätte so ein Vorgehen? In welches Licht würde es die mitfühlende Liebe und herzliche Fürsorge unseres himmlischen Vaters stellen? Ich für meinen Teil würde mich von einem solchen Gott im Stich gelassen, gequält und betrogen fühlen. Er wäre für mich weder vertrauens- noch liebenswürdig.

Die gesamte irdische Mission Jesu spricht eine völlig andere Sprache. Er ist den Menschen nahe gekommen, ganz nahe, so nahe, wie es irgend möglich war. Er war unter ihnen hörbar, fühlbar, sichtbar. Seine Hilfe war konkret, Seine Worte lebenstauglich, Seine Heilungen (Sinnbilder für Erlösung!) vollständig und vollkommen. Darin steckt eine mächtige Botschaft: Gott ist kein Theoretiker. Wir missverstehen Sein Wesen, wenn wir meinen, Er könne uns aus irgendwelchen mysteriösen Gründen momentan nur eingeschränkt Hilfe senden, und wir müssten uns mit unseren Schwächen eben irgendwie arrangieren, bis Er eines Tages dann in einem gewaltigen Handstreich alles einschließlich unserer Herzen neu und vollkommen machen würde.

Nein, Gott ist jetzt schon da! Als der Sohn Gottes Mensch wurde, erhielt er den Namen Immanuel: „Gott ist mit uns“! Es war die ungeteilte, mächtige, liebende Gegenwart des souveränen Schöpfers des Universums, die, verhüllt in eine menschliche Gestalt, auf diese Erde gekommen war. Und seit Christus wieder in den Himmel aufgefahren ist, hat der Heilige Geist Seine Stelle eingenommen und bringt uns ebenfalls die ganze Fülle der Göttlichkeit in greifbare Nähe – sogar noch näher und umfassender, als es zuvor Jesus in menschlicher Gestalt möglich gewesen war.

Auf den Punkt gebracht: Gottes Heil ist da – jetzt, hier, unmittelbar! Ja, der Weg mit Gott ist eine lebenslange Schule der Heiligung, und Anfechtungen und Kämpfe warten auf jeden einzelnen Nachfolger. Doch Gottes rettende und befreiende Gegenwart – darauf brauchen wir nicht einen Moment länger zu warten, denn sie ist nur ein Gebet weit entfernt. Im Glauben dürfen wir sie erbitten und erfahren.

LJ 252 Bitten wir um irdische Segnungen, so mag die Erhörung unseres Gebets verzögert werden oder Gott mag uns etwas anderes geben als das Erbetene. Wenn wir aber um Befreiung von der Sünde bitten, hilft er sofort. Es ist sein Wille, uns von der Sünde zu befreien, uns zu seinen Kindern zu machen und uns zu befähigen, ein gerechtes Leben zu führen.

COL 332f. Die himmlischen Wesen werden dem Menschen beistehen, der mit entschlossenem Glauben jene Vollkommenheit des Charakters anstrebt, die sich bis zur Vollkommenheit des Handelns ausstreckt. Jedem, der diese Aufgabe anpackt, sagt Christus: Ich bin zu deiner rechten Hand, um dir zu helfen.

Vergessen wir nicht: Gott hasst Sünde. Wäre es möglich, sie unverzüglich auszurotten, würde Er es tun. Wäre Gott fähig, uns in einem Moment zu heiligen, würde Er es tun – und zwar sofort bei der Bekehrung. Aber es geht eben nicht. Wir haben etwas zu lernen, wir müssen wachsen, reifen und fest werden. 6 000 Jahre Sünde lassen sich nicht auf Knopfdruck aus unserem Kopf und dieser Welt entfernen, sonst wäre doch die millionenfache Frage gerechtfertigt, warum denn Gott nichts gegen das unsägliche Leid auf der Erde unternehme. Er muss Zeit geben, damit jeder Mensch seine Chance erhält und lernt, seinen freien Willen wieder zu gebrauchen, und damit andererseits auch das Böse voll ausreift und dann nie wieder auftauchen kann.

Der Prozess von Entscheidung, Wachstum und Reife eines jeden Menschen geschieht auf dieser Erde, in diesem Leben. Bibel und Geist der Weissagung lehren einmütig und eindeutig, dass es über das Grab hinaus keine Möglichkeit einer moralischen Läuterung gibt. Jeder wird einmal ernten, was er zu Lebzeiten gesät und gepflegt hat.

Heb 9,27 Und wie es den Menschen bestimmt ist, einmal zu sterben, danach aber das Gericht,

28 so wird auch der Christus, nachdem er einmal geopfert worden ist, um vieler Sünden zu tragen, zum zweiten Male ohne Beziehung zur Sünde denen zum Heil erscheinen, die ihn erwarten.

Off 22,11 Wer unrecht tut, tue noch unrecht, und wer unrein ist, verunreinige sich noch, und wer gerecht ist, übe noch Gerechtigkeit, und wer heilig ist, sei noch geheiligt.

AH 16 Den Charakter, den du während der Gnadenzeit hast, wirst du auch bei der Wiederkunft Christi haben. Willst du ein Heiliger im Himmel sein, musst du zuerst ein Heiliger auf der Erde sein. Die Charaktermerkmale, die du im Leben entwickelst, werden nicht durch den Tod oder bei der Auferstehung geändert. Du wirst mit demselben Wesen aus dem Grab auferstehen, das du zuhause und in der Gesellschaft offenbart hast. Jesus verändert den Charakter bei seiner Wiederkunft nicht. Das Werk der Umwandlung muss jetzt getan werden. Unser tägliches Leben bestimmt unser Schicksal.

AH 319 Viele täuschen sich, wenn sie denken, dass der Charakter bei Christi Kommen umgewandelt wird, denn bei seinem Erscheinen wird es keine Herzensänderung geben. Unsere Charakterfehler müssen hier bereut werden, und durch die Gnade Christi müssen wir sie überwinden, solange noch Gnadenzeit ist.

60. Die Lehre der Charaktervervollkommnung ist nicht extrem, sondern die konsequente Weiterführung der reformatorischen Glaubensgerechtigkeit und unsere einzige Hoffnung auf ewiges Leben. Sie „gibt Gott die Ehre“ (Off 14,7) als Neuschöpfer und mächtigem Erlöser. Sie ist der einzige biblische und logische Weg zur endgültigen Beseitigung der Sünde und die großartigste Verheißung, die Gott Menschen je gemacht hat.

Vollkommenheit ist Heiligkeit, Reinheit, Wahrhaftigkeit, Liebe, Gerechtigkeit, Makellosigkeit, Untadeligkeit, Schönheit, Vollendung. Vollkommenheit vereint alles nur denkbar Positive in sich. Sie ist eine tiefgreifende Beschreibung des Wesens Gottes und in ihrer ultimativen Bedeutung Göttlichkeit par excellence. Wenn Vollkommenheit extrem ist, ist Gott extrem. Aber weil das natürlich nicht der Fall und Gott tatsächlich absolut und ohne jede Einschränkung gut ist, ist Vollkommenheit absolut und ohne jede Einschränkung gut.

Warum hat Vollkommenheit dann einen so schlechten Ruf in unseren Reihen? Warum schmeckt sie so anrüchig nach Fanatismus? Wieso schätzen, ehren und erstreben wir sie so wenig als eine unvergleichliche, erstaunliche und kostbarste Gabe Gottes? Weshalb lieben und ersehnen wir sie nicht als Ausdruck alles dessen, was unseren Vater im Himmel ausmacht und im Leben von Jesus Christus offenbar geworden ist? Wer oder was hat die Bedeutung dieses, ich möchte sagen, „heiligen“ Begriffes so getrübt und verdreht?

Christliche Vollkommenheit ist die Frucht wahrer Rechtfertigung. Ein Glaube, der uns in lebendige Gemeinschaft mit Christus bringt, führt immer zur inneren Vervollkommnung. Vollkommenheit ist die Verwirklichung und der Beweis echter Glaubensgerechtigkeit. Der Glaube ist das Alpha, Vollkommenheit das Omega und Christus, „das Alpha und das Omega“ in Person, ist auch das gesamte Alphabet, das diese beiden griechischen Buchstaben miteinander verbindet.

Ein geschätzter Prediger und Bibellehrer hielt einmal einen Vortrag über Rechtfertigung, bei dem ich anwesend war. Er stellte Heiligung als eine Kurve der Sittlichkeit dar, die ab der Bekehrung einen Aufwärtstrend mit Höhen und Tiefen erfuhr und dort, wo das Lebensende markiert war, bei etwa „70 % Heiligkeit“ auslief. In einem anschließenden Briefwechsel fragte ich ihn, was denn mit den fehlenden 30 % geschehe, da doch laut Bibel und Geist der Weissagung über den Tod hinaus keine Heiligung mehr stattfinde. Abgesehen davon, dass mir meine Argumentation das Prädikat eines „klassischen Perfektionisten“ einheimste, lautete seine Antwort: „Wir werden nicht aufgrund unserer Heiligung gerettet, sondern aufgrund des Todes Christi.“

Das ist eine leider häufig auftretende Du-fragst-nach-einem-Apfel-Hier-hast-du-eine-Birne-Antwort. Meine Nachfrage bezog sich nicht auf das Fundament, sondern auf das Gebäude, das darauf entsteht, und was denn passiert, wenn der Dachstuhl zwar steht, aber nie mit Ziegeln gedeckt wird. Ein Hinweis auf die tadellose Qualität des Fundamentes ist wenig hilfreich, wenn der Regen einsetzt.

Auf die Erlösung bezogen: Der Tod Christi ist in der Tat die Grundlage unserer Rettung, aber die Rettung selbst besteht in Vergebung und einem neuen Herzen – als Frucht und praktische Auswirkung von Christi Kreuzestod. Heiligung ist konkret gewordene Rettung, und deswegen lautete obige Antwort eigentlich: „Wir werden nicht aufgrund unserer Rettung gerettet, sondern aufgrund des Todes Christi.“ Nun steht es mir fern, diesem Bruder Böses zu unterstellen; doch tatsächlich gebrauchte er Golgatha als Begründung dafür, warum wir keine Rettung (in Gestalt völliger Heiligung) bräuchten.

Es stimmt: Wir werden nicht aufgrund unserer Heiligung gerettet – Heiligung ist die Rettung! Wir werden auch nicht aufgrund unserer Vollkommenheit erlöst – Vollkommenheit ist die Erlösung! Es geht hier schlicht um Ursache (Rechtfertigung) und Wirkung (Vervollkommnung), und ich kann eine mangelhafte Wirkung nicht damit beiseiteschieben, dass ich auf die wichtige Rolle der Ursache verweise.

Darum: Vollständige Heiligung ist der Zwillingsbruder von und die logische Konsequenz aus vollständiger Rechtfertigung, wie die Reformation sie entdeckt und verkündet hat. Und würde Gott uns Hoffnung auf ewiges Leben machen auch ohne sittliche Vollkommenheit, müsste er ein Plätzchen für Unvollkommenheit genannt „Sünde“ lassen und würde sie zwangsläufig mit verewigen.

„Aber so kleinlich wird Gott doch nicht sein …“ Kleinlich? Wenn das kleinlich ist, dann war es auch kleinlich, Adam und Eva wegen eines Apfels aus dem Paradies zu vertreiben und zum Tode zu verurteilen. Sind 6 000 Jahre auf einer Welt der Sünde immer noch nicht genug, um in furchtbarer Anschaulichkeit das Gegenteil zu beweisen? Eine „kleine Sünde“ war der Auslöser für das ganze grenzenlose Elend und Desaster auf diesem Planeten, ja für den unvorstellbar grausamen Tod des Sohnes Gottes – und wir wollen eine „kleine Sünde“ wieder in den Himmel importieren? Das Universum wird vor den katastrophalen Früchten der Rebellion erst sicher sein, wenn auch alle ihre Samenkörner – die kleinen Sünden, mit denen sie anfängt – vernichtet sind.

4T 578 Ein Schritt in die falsche Richtung ebnet den Weg für den nächsten. Ein einziges Glas Wein kann der Versuchung die Tür öffnen und einen Gewohnheitstrinker hervorbringen. Einen einzigen Moment Rachegefühlen nachzugeben, kann eine Kette von Emotionen in Gang setzen, die im Mord endet. Die kleinste Abweichung von Recht und Ordnung wird zur Trennung von Gott führen und kann im Glaubensabfall enden.

Mir ist bewusst, dass viele keinen Zweifel daran haben, dass die Neue Erde ein vollkommener Ort sein wird, nur finden sie viele Gründe, warum das angeblich auch ohne völlige Heiligung in diesem Leben funktioniert. Sie sagen, im Himmel werden wir nicht mehr sündigen, weil

  • wir vorher versiegelt worden sind,
  • wir durch die Verwandlung bei der Wiederkunft keine gefallene Natur mehr haben,
  • der Teufel nicht mehr da ist, um uns zu versuchen,
  • wir in dieser wunderbaren Umgebung gar nicht auf böse Gedanken kommen
  • usw.

Alle diese Begründungen verschieben die Ursache oder zumindest Verantwortung für meinen Ungehorsam nach außen: Ich sündige, weil Gott mich noch nicht versiegelt hat, weil ich meiner Natur nicht widerstehen kann, weil der Teufel mich anstachelt oder weil ich so wenig gute Vorbilder habe … Wenn wir solche Gedanken hegen, brauchen wir uns nicht zu wundern, dass wir nicht überwinden – wir verteidigen unsere Schwächen ja und verhindern damit, dass der Heilige Geist uns Reue und Vergebung schenkt, was wiederum die Grundvoraussetzung für ein geisterfülltes Leben als Überwinder ist.

Es gibt aber einen anderen, entscheidenden Grund, warum alle diese Überlegungen nichtig sind: Christus. Er war nicht versiegelt, Er hatte unsere gefallene Natur, der Teufel versuchte Ihn weit heftiger als jeden anderen Sterblichen, und Er war in derselben trostlosen Umgebung voller schlechter Vorbilder wie auch wir. Und dennoch war Sein Leben von makelloser Reinheit. Er ist unser Beispiel. Sein Weg führt zu vollkommener Gerechtigkeit. Christus in uns ist die „Hoffnung der Herrlichkeit“ (Kol 1,27; siehe auch These 62).

Zum Punkt, dass vollkommene Gerechtigkeit „unsere einzige Hoffnung auf ewiges Leben“ ist, sei kurz daran erinnert, was der Geist der Weissagung über Einwände gegen „Vollkommenheit“ und „Tadellosigkeit in Liebe und Heiligkeit“ zu sagen hat (siehe vorige These):

BE, 15.1.1892 Jemand mag sagen: „Diesem Anspruch kann ich unmöglich gerecht werden.“ Aber genau das musst du, sonst wirst du den Himmel niemals betreten.

Zum Punkt, dass Gott dadurch geehrt wird, dass er Menschen charakterlich vervollkommnet, noch einmal ein Zitat aus These 38:

DA 671 Die Vervollkommnung des Charakters seines Volkes ist eine Ehrensache für Gott, eine Ehrensache für Christus. (vgl. LJ 670)

Ja, wahrhaftig: Unsere Vervollkommnung ist „die großartigste Verheißung, die Gott Menschen je gemacht hat“ – so tief und groß und weit, dass sie uns fast überwältigt und wir unseren Kleinmut spüren, sie zuversichtlich und dankbar in Anspruch zu nehmen! Aber gehen wir doch wie einst die Jünger zum Herrn und bitten Ihn: „Mehre uns den Glauben!“ (Lk 17,5)

58. Alle Werke Gottes sind vollkommen. Da Rechtfertigung und Heiligung Gottes Werk sind, sind sie notwendigerweise auch vollkommen.

Ich erinnere an die Bibeltexte aus These 38 über Gottes Handeln:

5Mo 32,4 … vollkommen ist sein Tun …

2Sam 22,31 … sein Weg ist vollkommen …

Pred 3,14 … alles, was Gott tut, ist für ewig …

Jak 1,17 … jedes vollkommene Geschenk kommt … von dem Vater …

Eigenartigerweise betonen gerade diejenigen, die Erlösung als alleiniges Handeln Gottes (und nicht des Menschen) definieren, mit Nachdruck, dass eine völlige Heiligung der Gläubigen in diesem Leben eine Illusion sei, und verweisen als Grund für diese Unmöglichkeit auf die Schwachheit und Verdorbenheit unseren gefallenen Natur. Doch wenn Heiligung das Werk Gottes ist, wie kann sie dann von menschlicher Schwachheit behindert werden?

Das zweite Problem mit dem Verweis auf die menschliche Schwachheit ist, dass nach dieser Sichtweise ein mögliches Zusammenspiel eines vollkommenen Gottes und unvollkommener Menschen (in diesem Fall bei der Heiligung) zwangsweise zu einem unvollkommenen Resultat führt. Damit spricht sie der menschlichen Unvollkommenheit größeren Einfluss zu als der göttlichen Vollkommenheit. Sie sagt praktisch: Wenn Gott und Mensch zusammenarbeiten, wird unter dem Strich der Mensch diesem gemeinsamen Werk den Stempel der Unvollkommenheit aufdrücken, statt dass Gott ihm den Stempel der Vollkommenheit aufdrückt. Was letztlich dem Eingeständnis gleichkommt, das Böse sei mächtiger als das Gute.

Die Bibel sagt das Gegenteil.

Röm 5,20 Wo die Sünde überströmend geworden ist, ist die Gnade noch überschwänglicher geworden.

Röm 12,21 Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse durch das Gute!

Das Heiligtum lehrt uns, dass „hochheilige“ Gegenstände wie der Brandopferalter nicht entheiligt werden konnten, sondern im Gegenteil alles heiligten, was sie berührte:

2Mo 29,37 Sieben Tage sollst du Sühnung am Altar vollziehen und ihn dadurch heiligen. So wird der Altar hochheilig sein: alles, was den Altar berührt, ist geheiligt.

Diese hoffnungsvolle Symbolik findet im Messias ihre tiefste Erfüllung, denn wenn Christus in Gemeinschaft mit dem Sünder kommt, wird nicht Er verunreinigt, sondern der Sünder gereinigt! Ellen White illustriert diesen Punkt auf eindrückliche Weise anhand der Heilung des Aussätzigen:

LJ 252 Jesu Wundertat an dem Aussätzigen veranschaulicht sein Wirken, die Seele von Sünden zu reinigen. Der Mann, der zu Jesus kam, war „voll Aussatz“, dessen tödliches Gift seinen ganzen Körper durchdrang. Die Jünger suchten ihren Meister daran zu hindern, ihn anzurühren; denn wer einen Aussätzigen berührte, verunreinigte sich selbst. Jesus aber wurde dadurch, dass er seine Hand auf den Aussätzigen legte, nicht verunreinigt; seine Berührung übertrug lebenspendende Kräfte, und der Kranke wurde geheilt. So verhält es sich auch mit dem Aussatz der Sünde … Wenn der Herr im Herzen des Menschen wohnt, wird kein Makel ihn je erreichen [wörtl.: Jesus, coming to dwell in humanity, receives no pollution]; seine Gegenwart übt eine heilende Kraft auf den Sünder aus.

Jesu Gegenwart besitzt „heilende Kraft“! Selbst wenn Heiligung menschliche Mitarbeit einschließt (was biblisch zutrifft), gibt es daher keinen Grund, vollkommene Heiligung mit Hinweis auf die menschliche Schwachheit für unmöglich zu erklären. Wenn Gott da ist, wird selbst ein gewöhnlicher menschlicher Gegenstand wie Moses Hirtenstab so mächtig, dass er ein stolzes Imperium wie das alte Ägypten in die Knie zwingt.

40. „Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ (Mt 5,48) Dieses Gebot ist eine Verheißung. Der Erlösungsplan hat unsere vollständige Befreiung aus der Macht Satans zum Ziel.

Wer Das Leben Jesu kennt, weiß, dass diese These wörtlich daraus zitiert ist (S. 300). Diese wenigen Sätze fassen im Grunde das Evangelium zusammen. Sie bestätigen, dass Gott Vollkommenheit erwartet („Gebot“), weil Er sie selbst verwirklicht („Verheißung“), und dass Erlösung als ein Zusammenspiel von göttlicher Aktion („Erlösung, Befreiung“) und menschlicher Reaktion (Gehorsam gegenüber dem „Ihr sollt“) geschieht, dessen Ziel die „vollständige Freiheit“ ist, mit der Gott die ersten Menschen ausgestattet hatte.

Der Geist der Weissagung schildert uns, wie Jesus selbst durch das Zusammenspiel von Gottes „Geboten“ und „Verheißungen“ aus dem großen Kampf mit dem Teufel als Sieger hervorging:

MH 181 Der Heiland überwand, um den Menschen zu zeigen, wie sie überwinden können. Allen Versuchungen Satans begegnete Christus mit dem Wort Gottes. Indem er Gottes Verheißungen vertraute, empfing er Kraft, Gottes Geboten zu gehorchen, und der Versucher konnte keinen Vorteil erringen.

Überlegen wir einmal: Gott als barmherziger Vater und liebender Schöpfer würde niemals auch nur annähernd gefallenen Geschöpfen wie dir und mir etwas „gebieten“, von dem Er wüsste, dass wir dazu beim besten Willen nicht in der Lage wären. Selbst menschliche Eltern mit ihrer so begrenzten Liebesfähigkeit kämen nicht auf den Gedanken, ihre Kinder mit derartigen Forderungen zu quälen – wie viel mehr der Vater aller Väter!

Ellen White schreibt zum obigen Bibelvers (Mt 5,48) an anderer Stelle:

ST, 3.9.1902 Vor aller Welt lässt Gott uns zu lebendigen Zeugen dafür heranwachsen, was Männer und Frauen durch die Gnade Christi werden können. Wir werden ermahnt, nach einem vollkommenen Charakter zu streben. Der göttliche Lehrer sagt: „Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ (Mt 5,48) Würde Christus uns damit schikanieren, dass er Unmögliches von uns verlangt? Nie und nimmer! Was für eine Ehre er uns erweist, dass er uns drängt, in unserem Bereich so heilig zu sein wie der Vater in seinem Bereich! Er kann uns dazu befähigen, denn er erklärt: „Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf Erden.“ (Mt 28,18) Wir haben das Vorrecht, diese unbegrenzte Macht in Anspruch zu nehmen.

2SM 32 Die Schrift lehrt uns, nach der Heiligung von Körper, Seele und Geist für Gott zu streben. Dabei sollen wir mit Gott zusammenarbeiten. Es kann viel getan werden, um das sittliche Bild Gottes im Menschen wiederherzustellen und die körperlichen, geistigen und moralischen Fähigkeiten zu entwickeln. Große Veränderungen können im Organismus geschehen, wenn man Gottes Gesetzen gehorcht und dem Körper nichts Unreines zuführt. Zwar können wir keine Vollkommenheit des Fleisches beanspruchen, doch dürfen wir christliche Vollkommenheit der Seele haben. Durch das für uns gebrachte Opfer können Sünden vollkommen vergeben werden. Wir stützen uns nicht darauf, was der Mensch tun kann, sondern was Gott durch Christus für den Menschen tun kann. Wenn wir uns Gott ganz übergeben und völlig glauben, reinigt Christi Blut uns von allen Sünden. Das Gewissen kann frei werden von Verdammung. Durch den Glauben an Sein Blut kann jeder in Christus Jesus vervollkommnet werden. Gott sei Dank, dass wir es nicht mit Unmöglichkeiten zu tun haben! Wir dürfen Heiligung beanspruchen. Wir dürfen Gottes Gunst genießen. Wir sollen uns nicht darüber sorgen, was Christus und Gott von uns denken, sondern was Gott von Christus, unserem Stellvertreter, denkt. Ihr seid angenommen in dem Geliebten. (vgl. 2FG 33)

Es ist ein trauriges Kapitel Adventgeschichte, dass gerade die Zusage Jesu in diesem Vers (Mt 5,48), die die wunderbare Tiefe und Überschwänglichkeit des Erlösungsplanes zum Ausdruck bringt – die Wiederherstellung der Vollkommenheit, mit der Gott uns geschaffen hat –, so häufig gemieden, bestritten und relativiert worden ist. Der erste Schritt, dieses Stück Geschichte zu einem Kapitel des Triumphes zu machen, ist einzugestehen, dass diese Worte Jesu an sich schlicht, mächtig und herrlich sind und das einzige Problem damit unser Mangel an Glauben ist. Gottes Wort steht fest, und die Erfüllung aller Seiner Versprechen ist über jeden Zweifel erhaben. Doch entscheiden persönlicher Glaube oder Unglaube darüber, an wem sich das Wort verwirklicht und an wem nicht.

Wir brauchen kindlichen Glauben! Wir sollten daher konsequent alles Glaubensstärkende pflegen und hegen, zweifelnde Überlegungen hingegen verbannen und ihnen keinen Raum geben. Daher abschließend noch ein glaubensstärkender Gedanke aus dem obigen Vers: Unsere Vollkommenheit ist die natürliche Folge daraus, dass unser Vater vollkommen ist. Wir werden vollkommen sein, weil unser Vater vollkommen ist! Das ist das „Gesetz geistlicher Vererbung“. Wir bringen diese Vollkommenheit nicht aus uns selbst hervor, sondern Gott hat sie in uns hineingelegt, als Er uns durch die Wiedergeburt zu Seinen Kindern gemacht – „gezeugt“ – hat. Wenn wir Ihm so unbekümmert vertrauen, wie Kinder es natürlicherweise tun, schaffen wir den nötigen Raum, dass dieser göttliche Same der Vollkommenheit wachsen und reifen kann. Die Sonne der Gerechtigkeit Christi und der Regen des Heiligen Geistes werden die Frucht hervorbringen, die Gott bereits im Samenkorn verborgen hat. Das sind Naturgesetze. Nichts kann sie aufhalten – außer unserem Zweifel. Deshalb lasst uns unserem Vater im Himmel vertrauen! Er kann und wird uns nicht enttäuschen.

38. Der Erlösungsplan besteht darin, dass Gott uns vollständige Sündenerkenntnis schenkt, um uns dann, wenn wir darum bitten, vollkommen zu vergeben und damit ungeteilte Liebe zu Gott in uns zu wecken, die zu dem Wunsch führt, Gottes Wesenszüge vollständig nachzuahmen, woraufhin der Heilige Geist völligen Gehorsam in unser Herz legt, aus dem sich schließlich ein vollkommener Charakter entwickelt, der uns zu voller Gemeinschaft mit Gott in der Ewigkeit befähigt.

Der Erlösungsplan ist in allen seinen Phasen und Aspekten vollkommen, weil hinter seiner Entstehung und Verwirklichung ein vollkommener Gott steht. Seine Handschrift trägt er, und Sein Wesen bezeugt er – den überragenden Reichtum Seiner Liebe, Gnade und rettenden Macht.

5Mo 32,4 Der Fels: vollkommen ist sein Tun; denn alle seine Wege sind recht. Ein Gott der Treue und ohne Trug, gerecht und gerade ist er!

2Sam 22,31 Gott – sein Weg ist vollkommen; des HERRN Wort ist lauter; ein Schild ist er allen, die sich bei ihm bergen.

Pred 3,14 Ich habe erkannt, dass alles, was Gott tut, für ewig ist; man kann nichts hinzufügen und nichts davon wegnehmen; und Gott hat es so gemacht, damit man ihn fürchte.

Jak 1,17 Jede gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk kommt von oben herab, von dem Vater der Lichter, bei dem keine Veränderung ist noch eines Wechsels Schatten.

Mt 5,48 Ihr nun sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.

Ein vollkommener Gott bringt niemals etwas Unvollkommenes hervor. Die zweite Schöpfung wird nicht weniger perfekt sein als die erste. Diese biblische Tatsache zu bestreiten oder zu beschränken, beweist nicht Demut oder Bescheidenheit, sondern schlicht Unkenntnis oder Unglauben. Durch mangelnden Glauben an unsere sittliche Vervollkommnung vereiteln wir die überschwänglichen Absichten des Himmels mit dem Menschen und enthalten Gott die Ihm zustehende Ehre und Herrlichkeit vor.

DA 671 Die Vervollkommnung des Charakters seines Volkes ist eine Ehrensache für Gott, eine Ehrensache für Christus. (vgl. LJ 670)

Off 14,7 Fürchtet Gott und gebt ihm die Ehre!

Die größte Ehre für einen Arzt sind gesunde Patienten, und die größte Ehre für den Erlöser sind erlöste Sünder – vervollkommnete Menschen! Du kannst Gott keine größere „Ehre geben“, als dein sündiges Leben und Wesen zu Seinen Füßen zu legen und zu sagen: „Tu damit, was immer Dir gefällt.“ Gott steht zu Seinem Wort, uns zu vervollkommnen, ja Er hat sogar Seine persönliche Ehre von der Erreichung dieses Zieles abhängig gemacht. Nichts und niemand kann Ihn davon abhalten – schenke Ihm einfach dein ganzes Vertrauen!