Ich wünschte, ich könnte die Tragweite der Gedanken in dieser These angemessen zum Ausdruck bringen. Ich liebe meine Gemeinde und bin von ganzem Herzen Siebenten-Tags-Adventist. Ich weiß, dass der Herr am Steuer des „stolzen“ Schiffes Gemeinde steht und es sicher durch alle Stürme der letzten Zeit manövriert, die schon seit Längerem immer spürbarer wehen. Doch nachdem ich Kindheit, Jugend und nun bald 35 Taufjahre in der Gemeinde erlebt habe, nehme ich so manche Entwicklung auch schmerzlich wahr. Und die vielleicht tragischste in meinen Augen ist, dass wir immer weniger ein „Volk des Buches“ sind.
Dabei geht es nicht nur um das Lesemaß – wie viel jeder Jugendliche oder Erwachsene täglich (wöchentlich? monatlich?) in der Bibel liest; welcher Anteil Glieder sich in der Woche mit dem Lektionsthema beschäftigt; wie viele Texte in der Predigt verwendet werden usw. Vor allem fällt mir auf, was man einen wachsenden „exegetischen Analphabetismus“ nennen könnte: Wir verlernen immer mehr, die Bibel auszulegen, oder besser gesagt, die Bibel für sich selbst sprechen zu lassen.
Es würde längst nicht so viel theologische Uneinigkeit und Beliebigkeit unter uns herrschen, würden wir eine der elementarsten Grundregeln beherzigen: Biblische Aussagen müssen in ihrem direkten und im Gesamtkontext verstanden werden. Der direkte Kontext ist der Gedankengang des Abschnitts, in dem eine Aussage sich befindet; der Gesamtkontext ist das Bild, das sich beim Zusammentragen aller thematisch verwandten Aussagen ergibt. „Im Kontext“ ist das Gegenteil von „selektiv“. Keine Irrlehre und kein „babylonischer Wein“ könnten unter uns Raum finden, würden wir diese Regel konsequent und unter Gebet beachten.
Ein von mir sehr geschätzter adventistischer Theologe kommentierte die Unterscheidung von zwei Arten der Rechtfertigung in dieser These wie folgt: „Rechtfertigung ist biblisch gesehen immer der Freispruch des ‚Gottlosen‘ = Sünders (Röm 4,5), nie der Freispruch eines Gerechten.“ Den oben angeführten Vers (Röm 2,13) nannte er „die Anerkennung“ des aus Glauben Gerechten. Nun meine ich, sein berechtigtes Anliegen durchaus zu erkennen. Dennoch fällt mir auf, dass in seinem Kommentar der Begriff „Rechtfertigung“ auf einen Gebrauch wie in Römer 4,5 verengt und die „Rechtfertigung“ in Römer 2,13 in „Freispruch“ und „Anerkennung“ umbenannt wird, obwohl dort derselbe Begriff steht („gerechtfertigt“). Sollten wir es nicht der Bibel überlassen, ihre Begriffe zu definieren? Und sollten wir diese Definitionen nicht in unseren eigenen Sprachgebrauch übernehmen, um Missverständnisse zu vermeiden?
Es ist offensichtlich, dass die Heilige Schrift „Rechtfertigung“ unterschiedlich gebraucht. Hier das wohl beste Beispiel:
Röm 4,2 Wenn Abraham aus Werken gerechtfertigt worden ist, so hat er etwas zum Rühmen, aber nicht vor Gott.
Jak 2,21 Ist nicht Abraham, unser Vater, aus Werken gerechtfertigt worden, da er Isaak, seinen Sohn, auf den Opferaltar legte?
Der „Widerspruch“ lässt sich nur auflösen, wenn man den Begriff „gerechtfertigt“ anhand des Kontextes differenziert und erkennt, dass der Römer-Vers von einer anderen Art (oder einem anderen Aspekt) der Rechtfertigung spricht als der Jakobus-Vers: Die „Rechtfertigung des Gottlosen“ geschieht zu Beginn des Glaubenslebens, die „Rechtfertigung des Gerechten“ am Lebensende im Untersuchungsgericht. Die erste geschieht aufgrund des Glaubens, die zweite aufgrund der vom Glauben hervorgebrachten Werke – womit beide Arten der Rechtfertigung effektiv aus dem Glauben kommen.
Tatsächlich handelt es sich um ein und dieselbe Rechtfertigung, und ihre beiden Aspekte verhalten sich zueinander wie Verheißung und Erfüllung. Das ist die eigentliche biblische Bedeutung von „Rechtfertigung“, auch wenn sie heute fast völlig verloren gegangen ist. Von Abraham heißt es, dass seine „zugerechnete Gerechtigkeit“ in dem Moment zur „Erfüllung“ kam, als er in der Opferung Isaaks einen Gehorsam bewies, der stärker war als der Tod:
Jak 2,22 Du siehst, dass der Glaube mit seinen Werken zusammenwirkte und der Glaube aus den Werken vollendet wurde.
23 Und die Schrift wurde erfüllt, welche sagt: „Abraham aber glaubte Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet“, und er wurde „Freund Gottes“ genannt.
Mein nachdrückliches Plädoyer lautet: „Das Wort sie sollen lassen stahn!“ (Martin Luther) Nehmen wir Gottes Wort in allen seinen Bestandteilen gleichermaßen an! Eine selektive Erlösungstheologie, wo Rechtfertigung nur aus Glauben geschieht, Heiligung nur die Aussonderung für Gott ist und Versiegelung nur das Empfangen des Heiligen Geistes – alles Dinge, die augenblicklich und vollständig bei der Bekehrung geschehen – hat naturgemäß wenig Platz für einen Prozess des Wachsen, Reifens, Überwindens und noch weniger Platz für ein klar vorgegebenes Ziel wie Charaktervollkommenheit.
Unter dieser selektiven Theologie kränkelt und leidet unsere Gemeinde seit vielen Jahrzehnten, und sie ist das größte Hindernis für wahre Erweckung und Reformation, weil sie ein Heil verkündet, für das weder Erweckung noch Reformation wirklich notwendig sind, da meine Erlösung in Christus ja schon vollbracht und sicher ist. Wozu also die Aufregung? Warum der moralische Druck? Weshalb die ständigen Appelle und Weckrufe? Erfreuen wir uns lieber an dem, was wir längst besitzen …
Bleiben wir bei dieser Theologie, werden auch Lauheit und Weltlichkeit bleiben – und schlimmer werden. Kehren wir mit Gottes Hilfe zurück zur biblischen Rechtfertigungs- und Erlösungslehre, werden die Hindernisse für die ersehnte Erweckung und den Spätregen verschwinden. Der Herr wird uns gnädig vergeben und Gewaltiges bewirken. Und bald, sehr bald, wird Er kommen und uns für immer zu sich holen. Die zweite Option ist meine große Sehnsucht, und dafür kämpfe ich – in meinem persönlichen Glauben und Leben und in dieser Gemeinde, die unsere geistliche Familie ist. Und meine herzliche Bitte an dich, lieber Leser, ist, dich diesem Anliegen anzuschließen!