Luther stand mit beiden Beinen auf dem Boden. Er hatte einen sehr praktischen Begriff von Glauben und hat die wichtige Bedeutung von Nachfolge und Gehorsam im Leben des Christen durchaus erkannt und verkündigt. Auch hat sich sein theologisches Verständnis der Erlösung im Laufe seines Lebens gewandelt, indem er sich von einer rein forensischen Rechtfertigung („Gerechtsprechung“) näher zu einer effektiven Rechtfertigung („Gerechtmachung“ = Heiligung) hinbewegte. Sein jahrelanges Ringen um die rechte Einordnung des Jakobus-Briefes und letztlich „Versöhnung“ mit diesem Teil des Neuen Testamentes sind Ausdruck dieser Entwicklung.
Nach Luthers Tod gab es nicht wenig Streit um die wahre „evangelische Lehre“, und durchgesetzt hat sich die Strömung der „Gnesio-Lutheraner“, die sein Schrifttum selektiv und einseitig im Sinne einer streng forensischen Rechtfertigung gebrauchten. Dieses Erbe zeigt sich heute in weiten Teilen der evangelischen Christenheit und ist ein wesentlicher Grund für die vorherrschende Abneigung gegen das Gesetz Gottes und den Glaubensgehorsam.
Wenn man tiefer darüber nachdenkt, ist es eigentlich erstaunlich und traurig, dass so viele aufrichtige und gutmeinende Christen fest davon überzeugt sind, die Misere des gefallenen Menschen ließe sich allein durch „virtuelle Gerechtigkeit“ lösen, allein durch eine Art himmlische Kontobewegung zugunsten der Schuldigen, allein durch ein göttliches „Übersehen“ unserer Sündigkeit, weil sie durch Jesu Blut bedeckt sei. In diesem Sinne werden die Soli der Reformation ja gerne gebraucht – als könnten wir durch etwas erlöst werden, das rein außerhalb von uns stattfindet, wo doch die Sünde unser Inneres wie ein böser Krebs komplett befallen hat!
Ich sage dies in keiner Weise, um den Gedanken der Stellvertretung Jesu als unser Sühneopfer irgendwie anzuzweifeln oder zu schmälern – er ist eine der zwei Säulen der Erlösung –, sondern um die äußerste Sinnlosigkeit aufzuzeigen, würde es allein dabei bleiben! Was könnte der Vorstellung einer „externen Erlösung“ radikaler widersprechen als das Bild, das Jesus im nächtlichen Gespräch mit Nikodemus gebrauchte:
Joh 3,3 Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen.
„In Christus“ zu sein ist weit mehr, als seine Stellvertretung in Anspruch zu nehmen:
2Kor 5,17 Darum: Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen; siehe, es ist alles neu geworden!
Schon der alttestamentliche Heiligtumsdienst zeigte, dass es nicht ausreichend war, das Opfertier zu schlachten – das Blut musste auch zur Anwendung kommen, indem es vom Priester in das Heiligtum getragen und mit verschiedenen Gegenständen in Berührung kam. Dieser Dienst der Versöhnung geschieht seit Pfingsten im Himmel durch Christus und auf der Erde durch den Heiligen Geist. Über die Notwendigkeit dieses über Golgatha hinausreichenden Erlösungswerkes lesen wir im Leben Jesu:
LJ 670 [Der Heilige Geist] sollte uns als eine erneuernde Kraft erfüllen, ohne die das Opfer Christi wertlos gewesen wäre …
Beachten wir, wie der Heilige Geist, der die Worte jenes Buches inspiriert hat, anschließend seine eigene Aufgabe erklärt:
LJ 670 Nur durch die machtvolle Kraft der dritten Person der Gottheit konnte der Sünde widerstanden und sie überwunden werden … [Der Geist] reinigt das Herz, und durch ihn wird der Gläubige Teilhaber der göttlichen Natur. Christus hat seinen Geist als eine göttliche Kraft gegeben, um alle ererbten und anerzogenen Neigungen zum Bösen zu überwinden und seiner Gemeinde sein Wesen aufzuprägen.
Böse Neigungen zu überwinden und Jesu Wesen zu erhalten, gehen nach dem letzten Satz Hand in Hand. Durch die Gemeinschaft mit Jesus, die der Heilige Geist herstellt, werden wir befähigt, den Hang zur Sünde zu überwinden. Und durch das Überwinden von Sünde vertieft sich die Gemeinschaft mit Jesus, weil im Herzen mehr Raum für Ihn entsteht. Und je mehr Er uns ausfüllt, desto mehr wird Sein Bild in uns wiederhergestellt – bis wir durch Jesu Gnade und priesterlichen Mittlerdienst als vollständige Sieger dastehen.