47. Diese Behauptung ist vielmehr symptomatisch dafür, dass die Gemeinde unter den Einfluss der Kirchen Babylons geraten ist und die Botschaft von 1888 im Rückblick durch die Brille evangelischer Rechtfertigungslehre umdeutet.

Wenn die Botschaft von 1888 angenommen worden ist, wie heute von der Mehrheit unserer Theologen, Historiker und Leiter beteuert wird, darf sie natürlich nichts enthalten, was wir heute nicht lehren und leben. Sie muss unserem gängigen Rechtfertigungsverständnis entsprechen, und das ist nun einmal evangelisch gelagert, d. h., die zugesprochene (forensische) Gerechtigkeit Christi ist allein entscheidend für unser Heil und ebenso für unseren Freispruch im Gericht. Adventisten mögen deutlich mehr Gewicht auf Heiligung legen als evangelische Christen, doch solange das Maß der Heiligung beliebig ist (sie muss nicht „vollendet“ werden) und der Charakter kein Kriterium im Untersuchungsgericht darstellt, bleibt ihre Rechtfertigungslehre im Grundsatz auf derselben Linie. Und demzufolge kann auch die (so nannte Ellen White sie) „äußerst kostbare Botschaft“ von Jones und Waggoner in Minneapolis nichts anderes gewesen sein als Erlösung durch zugesprochene Gerechtigkeit.

Die nächste Konsequenz aus diesem Geschichtsverständnis ist, dass unser geistlicher Zustand bzw. unsere Rechtfertigung nichts mit der Wiederkunft zu tun haben darf. Es darf keinen kausalen Zusammenhang nach dem Schema „A führt zu B“ – „Rechtfertigung führt zur Wiederkunft“ – geben, weil sonst die seit 130 Jahren ausbleibende Wiederkunft die Beteuerung unseres Gerechtfertigtseins gründlich ad absurdum führen würde. Also muss der Zeitpunkt der Wiederkunft vom Faktor Mensch und unserer geistlichen Verfassung weitgehend abgekoppelt und stattdessen der göttlichen Souveränität überantwortet werden.

Woraus weiterhin eine bestimmte Sichtweise vom Dienst im Allerheiligsten seit 1844 folgt, denn Jesu Dienst darf dann ebenso wenig mit unserem geistlichen Zustand zu tun haben, da dieser ja grundsätzlich in Ordnung ist, aufgrund unserer Annahme der 1888 verkündeten Botschaft der Rechtfertigung aus Glauben. Es findet z. B. kein notwendiger Läuterungsprozess statt, da wir aufgrund der zugerechneten Gerechtigkeit für die Wiederkunft längst bereit sind und eigentlich nur noch warten – bzw. das Evangelium in alle Welt tragen müssen (dieser letzte Punkt wird dann schon zugestanden, weil er scheinbar unabhängig von unserer Rechtfertigung ist).

Auch wenn die letzten Absätze vielleicht etwas ironisch klingen, machen sie mich tatsächlich tief traurig. Wir leben bestenfalls in großer Unkenntnis, schlimmstenfalls in willigem Selbstbetrug. Und wir lesen eindeutig zu wenig oder zu oberflächlich den Geist der Weissagung, sonst könnten solche Irrtümer unmöglich so reichen Nährboden finden.

33. Das Allerheiligste steht für Vollendung und Gericht; hier erfährt der Gläubige volle Reife und Versiegelung. Dieser Punkt ist evangelischen Christen fremd.

… und mittlerweile auch fast allen Adventisten. Wie aber in These 30 und 32 ausgeführt, ist „volle Reife“ bzw. Charaktervollkommenheit der eigentliche Sinn und Zweck von Christi Dienst seit 1844. Damit bereitet Er seine Gemeinde darauf vor, Ihm im verherrlichten Zustand in den Wolken des Himmels zu begegnen und die ewigen Wohnungen der Erlösten im Neuen Jerusalem zu beziehen.

32. Das Heilige steht für die tägliche Lebensgemeinschaft mit Jesus; hier erfährt der Gläubige Veränderung und Wachstum. Diesen Punkt teilen evangelische Christen nur teilweise mit Adventisten.

Ich kenne keinen Christen, der behaupten würde, ein Mensch könne nach seiner Bekehrung komplett so weiterleben wie bisher. Insofern würde wohl jeder zustimmen, dass der christliche Glaube „Veränderung und Wachstum“ mit sich bringt. Die Frage ist nur, in welchem Maße. An diesem Punkt scheiden sich auch in der Adventgemeinde die Geister. Ob jemand liberal oder konservativ gesinnt ist, zeigt sich üblicherweise daran, wie viel Gewicht auf Heiligung und Gehorsam gelegt wird. Darüber lässt sich dann im Gemeindeleben „wunderbar“ und ausgiebig streiten. „Perfektionisten“ wollen aber beide Gruppen nicht sein, d. h. die Option vollständiger Heiligung und tadellosen Gehorsams scheidet aus und bleibt einigen einsamen Rufern in der Wüste vorbehalten.

Traurigerweise erinnert diese Situation an die Zeit Jesu, als sich Sadduzäer und Pharisäer zwar spinnefeind gegenüberstanden, in der Konfrontation mit Christus und Seinen Lehren am Ende aber beide gleicherweise auf der falschen Seite der Frage standen. Ihre „theologischen Diskussionen“ entpuppten sich als sinn- und fruchtlos, weil sie an den entscheidenden Punkten permanent vorbeigegangen waren: Hänge ich an Christus so vollständig wie eine Rebe am Weinstock? Wenn ja, gehört Sein Leben mir, fließt in mich hinein, bewirkt immer mehr Frucht und bringt sie zur Reife (ein Bild für Vollkommenheit). Wenn nein, bin ich ein toter Ast, verdorre immer mehr und bin eines Tages auch reif – doch leider für das Gericht. Also, jeder wird am Ende auf die eine oder andere Weise „reif“ oder „vollkommen“ sein (das griech. Wort teleios bedeutet beides). Es gibt nur diese zwei Möglichkeiten, wie Jesus Johannes auf Patmos symbolisch gezeigt hat – und nicht zufällig steht diese Schilderung direkt nach der Dreiengelbotschaft, die laut Ellen White den Zweck hat, die Gemeinde zu vervollkommnen:

Off 14,14 Und ich sah: und siehe, eine weiße Wolke, und auf der Wolke saß einer gleich einem Menschensohn, der auf seinem Haupt einen goldenen Siegeskranz und in seiner Hand eine scharfe Sichel hatte.

15 Und ein anderer Engel kam aus dem Tempel hervor und rief dem, der auf der Wolke saß, mit lauter Stimme zu: Schicke deine Sichel und ernte! Denn die Stunde des Erntens ist gekommen, denn die Ernte der Erde ist überreif geworden.

16 Und der auf der Wolke saß, warf seine Sichel auf die Erde, und die Erde wurde abgeerntet. [Christus erntet die Gläubigen und sammelt sie in seine Scheune; Mt 13,30.]

17 Und ein anderer Engel kam aus dem Tempel im Himmel hervor, und auch er hatte eine scharfe Sichel.

18 Und ein anderer Engel, der Macht über das Feuer hatte, kam aus dem Altar hervor, und er rief dem, der die scharfe Sichel hatte, mit lauter Stimme zu und sprach: Schicke deine scharfe Sichel und lies die Trauben des Weinstocks der Erde! Denn seine Beeren sind reif geworden.

19 Und der Engel warf seine Sichel auf die Erde und las den Weinstock der Erde ab und warf die Trauben in die große Kelter des Grimmes Gottes. [Ein Engel erntet die Ungläubigen, die Strafe und Vernichtung erfahren.]

31. Der Vorhof steht für Jesu Opfer am Kreuz; hier erfährt der Gläubige Vergebung und Wiedergeburt. Diesen Punkt teilen evangelische Christen voll mit Adventisten.

Ich bin mir nicht sicher, ob der letzte Satz stimmt. Auf den ersten Blick ja, auf den zweiten nein. Im weitesten Sinne schließt Gottes Vergebung völlige Wiederherstellung mit ein, was aber „evangelischen Christen fremd“ ist (siehe These 33). Ebenso beweist sich die Wiedergeburt in einem neuen Leben des Gehorsams („Jeder, der aus Gott geboren ist, tut nicht Sünde“; 1Joh 3,9), womit evangelische Christen mit ihrem gespaltenen Verhältnis zum Gesetz ebenfalls Bauchschmerzen hätten. Aber zumindest, wenn man Vergebung auf die Tatsache der erlassenen Schuld und des neuen, zugerechneten Status als Kind Gottes beschränkt, bestünde hier volle Gemeinsamkeit zwischen Evangelischen und Adventisten.

27. So entstand in der evangelischen Christenheit ein einseitiges Erlösungsverständnis, das Rechtfertigung als Erlösung an sich verstand statt als einen Teil der Erlösung.

Luther stand mit beiden Beinen auf dem Boden. Er hatte einen sehr praktischen Begriff von Glauben und hat die wichtige Bedeutung von Nachfolge und Gehorsam im Leben des Christen durchaus erkannt und verkündigt. Auch hat sich sein theologisches Verständnis der Erlösung im Laufe seines Lebens gewandelt, indem er sich von einer rein forensischen Rechtfertigung („Gerechtsprechung“) näher zu einer effektiven Rechtfertigung („Gerechtmachung“ = Heiligung) hinbewegte. Sein jahrelanges Ringen um die rechte Einordnung des Jakobus-Briefes und letztlich „Versöhnung“ mit diesem Teil des Neuen Testamentes sind Ausdruck dieser Entwicklung.

Nach Luthers Tod gab es nicht wenig Streit um die wahre „evangelische Lehre“, und durchgesetzt hat sich die Strömung der „Gnesio-Lutheraner“, die sein Schrifttum selektiv und einseitig im Sinne einer streng forensischen Rechtfertigung gebrauchten. Dieses Erbe zeigt sich heute in weiten Teilen der evangelischen Christenheit und ist ein wesentlicher Grund für die vorherrschende Abneigung gegen das Gesetz Gottes und den Glaubensgehorsam.

Wenn man tiefer darüber nachdenkt, ist es eigentlich erstaunlich und traurig, dass so viele aufrichtige und gutmeinende Christen fest davon überzeugt sind, die Misere des gefallenen Menschen ließe sich allein durch „virtuelle Gerechtigkeit“ lösen, allein durch eine Art himmlische Kontobewegung zugunsten der Schuldigen, allein durch ein göttliches „Übersehen“ unserer Sündigkeit, weil sie durch Jesu Blut bedeckt sei. In diesem Sinne werden die Soli der Reformation ja gerne gebraucht – als könnten wir durch etwas erlöst werden, das rein außerhalb von uns stattfindet, wo doch die Sünde unser Inneres wie ein böser Krebs komplett befallen hat!

Ich sage dies in keiner Weise, um den Gedanken der Stellvertretung Jesu als unser Sühneopfer irgendwie anzuzweifeln oder zu schmälern – er ist eine der zwei Säulen der Erlösung –, sondern um die äußerste Sinnlosigkeit aufzuzeigen, würde es allein dabei bleiben! Was könnte der Vorstellung einer „externen Erlösung“ radikaler widersprechen als das Bild, das Jesus im nächtlichen Gespräch mit Nikodemus gebrauchte:

Joh 3,3 Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen.

„In Christus“ zu sein ist weit mehr, als seine Stellvertretung in Anspruch zu nehmen:

2Kor 5,17 Darum: Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen; siehe, es ist alles neu geworden!

Schon der alttestamentliche Heiligtumsdienst zeigte, dass es nicht ausreichend war, das Opfertier zu schlachten – das Blut musste auch zur Anwendung kommen, indem es vom Priester in das Heiligtum getragen und mit verschiedenen Gegenständen in Berührung kam. Dieser Dienst der Versöhnung geschieht seit Pfingsten im Himmel durch Christus und auf der Erde durch den Heiligen Geist. Über die Notwendigkeit dieses über Golgatha hinausreichenden Erlösungswerkes lesen wir im Leben Jesu:

LJ 670 [Der Heilige Geist] sollte uns als eine erneuernde Kraft erfüllen, ohne die das Opfer Christi wertlos gewesen wäre

Beachten wir, wie der Heilige Geist, der die Worte jenes Buches inspiriert hat, anschließend seine eigene Aufgabe erklärt:

LJ 670 Nur durch die machtvolle Kraft der dritten Person der Gottheit konnte der Sünde widerstanden und sie überwunden werden … [Der Geist] reinigt das Herz, und durch ihn wird der Gläubige Teilhaber der göttlichen Natur. Christus hat seinen Geist als eine göttliche Kraft gegeben, um alle ererbten und anerzogenen Neigungen zum Bösen zu überwinden und seiner Gemeinde sein Wesen aufzuprägen.

Böse Neigungen zu überwinden und Jesu Wesen zu erhalten, gehen nach dem letzten Satz Hand in Hand. Durch die Gemeinschaft mit Jesus, die der Heilige Geist herstellt, werden wir befähigt, den Hang zur Sünde zu überwinden. Und durch das Überwinden von Sünde vertieft sich die Gemeinschaft mit Jesus, weil im Herzen mehr Raum für Ihn entsteht. Und je mehr Er uns ausfüllt, desto mehr wird Sein Bild in uns wiederhergestellt – bis wir durch Jesu Gnade und priesterlichen Mittlerdienst als vollständige Sieger dastehen.