92. Wie das alte Israel die Heilige Schrift selektiv las und nicht unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Kommen des Messias, so lesen viele Adventisten die Bibel selektiv und unterscheiden nicht zwischen der „Rechtfertigung des Gottlosen“ (Röm 4,5) und der „Rechtfertigung des Gehorsamen“ (Röm 2,13), zwischen Heiligung durch „Aussonderung“ (3Mo 20,26) und Heiligung zur „Untadeligkeit“ (1Thess 5,23), zwischen Versiegelung als Besitzanspruch (Eph 1,13) und Versiegelung als Bestätigung, dass der Mensch seinen Charakter „im Blut des Lammes weiß gemacht“ hat (Off 7,3.14).

Ich wünschte, ich könnte die Tragweite der Gedanken in dieser These angemessen zum Ausdruck bringen. Ich liebe meine Gemeinde und bin von ganzem Herzen Siebenten-Tags-Adventist. Ich weiß, dass der Herr am Steuer des „stolzen“ Schiffes Gemeinde steht und es sicher durch alle Stürme der letzten Zeit manövriert, die schon seit Längerem immer spürbarer wehen. Doch nachdem ich Kindheit, Jugend und nun bald 35 Taufjahre in der Gemeinde erlebt habe, nehme ich so manche Entwicklung auch schmerzlich wahr. Und die vielleicht tragischste in meinen Augen ist, dass wir immer weniger ein „Volk des Buches“ sind.

Dabei geht es nicht nur um das Lesemaß – wie viel jeder Jugendliche oder Erwachsene täglich (wöchentlich? monatlich?) in der Bibel liest; welcher Anteil Glieder sich in der Woche mit dem Lektionsthema beschäftigt; wie viele Texte in der Predigt verwendet werden usw. Vor allem fällt mir auf, was man einen wachsenden „exegetischen Analphabetismus“ nennen könnte: Wir verlernen immer mehr, die Bibel auszulegen, oder besser gesagt, die Bibel für sich selbst sprechen zu lassen.

Es würde längst nicht so viel theologische Uneinigkeit und Beliebigkeit unter uns herrschen, würden wir eine der elementarsten Grundregeln beherzigen: Biblische Aussagen müssen in ihrem direkten und im Gesamtkontext verstanden werden. Der direkte Kontext ist der Gedankengang des Abschnitts, in dem eine Aussage sich befindet; der Gesamtkontext ist das Bild, das sich beim Zusammentragen aller thematisch verwandten Aussagen ergibt. „Im Kontext“ ist das Gegenteil von „selektiv“. Keine Irrlehre und kein „babylonischer Wein“ könnten unter uns Raum finden, würden wir diese Regel konsequent und unter Gebet beachten.

Ein von mir sehr geschätzter adventistischer Theologe kommentierte die Unterscheidung von zwei Arten der Rechtfertigung in dieser These wie folgt: „Rechtfertigung ist biblisch gesehen immer der Freispruch des ‚Gottlosen‘ = Sünders (Röm 4,5), nie der Freispruch eines Gerechten.“ Den oben angeführten Vers (Röm 2,13) nannte er „die Anerkennung“ des aus Glauben Gerechten. Nun meine ich, sein berechtigtes Anliegen durchaus zu erkennen. Dennoch fällt mir auf, dass in seinem Kommentar der Begriff „Rechtfertigung“ auf einen Gebrauch wie in Römer 4,5 verengt und die „Rechtfertigung“ in Römer 2,13 in „Freispruch“ und „Anerkennung“ umbenannt wird, obwohl dort derselbe Begriff steht („gerechtfertigt“). Sollten wir es nicht der Bibel überlassen, ihre Begriffe zu definieren? Und sollten wir diese Definitionen nicht in unseren eigenen Sprachgebrauch übernehmen, um Missverständnisse zu vermeiden?

Es ist offensichtlich, dass die Heilige Schrift „Rechtfertigung“ unterschiedlich gebraucht. Hier das wohl beste Beispiel:

Röm 4,2 Wenn Abraham aus Werken gerechtfertigt worden ist, so hat er etwas zum Rühmen, aber nicht vor Gott.

Jak 2,21 Ist nicht Abraham, unser Vater, aus Werken gerechtfertigt worden, da er Isaak, seinen Sohn, auf den Opferaltar legte?

Der „Widerspruch“ lässt sich nur auflösen, wenn man den Begriff „gerechtfertigt“ anhand des Kontextes differenziert und erkennt, dass der Römer-Vers von einer anderen Art (oder einem anderen Aspekt) der Rechtfertigung spricht als der Jakobus-Vers: Die „Rechtfertigung des Gottlosen“ geschieht zu Beginn des Glaubenslebens, die „Rechtfertigung des Gerechten“ am Lebensende im Untersuchungsgericht. Die erste geschieht aufgrund des Glaubens, die zweite aufgrund der vom Glauben hervorgebrachten Werke – womit beide Arten der Rechtfertigung effektiv aus dem Glauben kommen.

Tatsächlich handelt es sich um ein und dieselbe Rechtfertigung, und ihre beiden Aspekte verhalten sich zueinander wie Verheißung und Erfüllung. Das ist die eigentliche biblische Bedeutung von „Rechtfertigung“, auch wenn sie heute fast völlig verloren gegangen ist. Von Abraham heißt es, dass seine „zugerechnete Gerechtigkeit“ in dem Moment zur „Erfüllung“ kam, als er in der Opferung Isaaks einen Gehorsam bewies, der stärker war als der Tod:

Jak 2,22 Du siehst, dass der Glaube mit seinen Werken zusammenwirkte und der Glaube aus den Werken vollendet wurde.

23 Und die Schrift wurde erfüllt, welche sagt: „Abraham aber glaubte Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet“, und er wurde „Freund Gottes“ genannt.

Mein nachdrückliches Plädoyer lautet: „Das Wort sie sollen lassen stahn!“ (Martin Luther) Nehmen wir Gottes Wort in allen seinen Bestandteilen gleichermaßen an! Eine selektive Erlösungstheologie, wo Rechtfertigung nur aus Glauben geschieht, Heiligung nur die Aussonderung für Gott ist und Versiegelung nur das Empfangen des Heiligen Geistes – alles Dinge, die augenblicklich und vollständig bei der Bekehrung geschehen – hat naturgemäß wenig Platz für einen Prozess des Wachsen, Reifens, Überwindens und noch weniger Platz für ein klar vorgegebenes Ziel wie Charaktervollkommenheit.

Unter dieser selektiven Theologie kränkelt und leidet unsere Gemeinde seit vielen Jahrzehnten, und sie ist das größte Hindernis für wahre Erweckung und Reformation, weil sie ein Heil verkündet, für das weder Erweckung noch Reformation wirklich notwendig sind, da meine Erlösung in Christus ja schon vollbracht und sicher ist. Wozu also die Aufregung? Warum der moralische Druck? Weshalb die ständigen Appelle und Weckrufe? Erfreuen wir uns lieber an dem, was wir längst besitzen …

Bleiben wir bei dieser Theologie, werden auch Lauheit und Weltlichkeit bleiben – und schlimmer werden. Kehren wir mit Gottes Hilfe zurück zur biblischen Rechtfertigungs- und Erlösungslehre, werden die Hindernisse für die ersehnte Erweckung und den Spätregen verschwinden. Der Herr wird uns gnädig vergeben und Gewaltiges bewirken. Und bald, sehr bald, wird Er kommen und uns für immer zu sich holen. Die zweite Option ist meine große Sehnsucht, und dafür kämpfe ich – in meinem persönlichen Glauben und Leben und in dieser Gemeinde, die unsere geistliche Familie ist. Und meine herzliche Bitte an dich, lieber Leser, ist, dich diesem Anliegen anzuschließen!

61. Unzählige Adventisten können nicht glauben, dass Gott ihren Charakter während ihrer Lebenszeit vervollkommnen will, haben aber keinen Zweifel, dass er dasselbe bei der Versiegelung bzw. Wiederkunft in einem Augenblick tun wird, obwohl die Schrift dies an keiner Stelle lehrt.

Ich kenne viele tiefgläubige, treue Adventisten, vor denen ich großen Respekt habe, die mit dem Thema Vollkommenheit jedoch ihre liebe Mühe haben. Ich erinnere mich an ein Gespräch darüber mit einem Prediger, der für mich in vieler Hinsicht ein Vorbild war. Eine Zeitlang wehrte er meine Argumente ab, doch an einem bestimmten Punkt drehte er sich um 180 Grad (so kam es mir vor) und sagte: „Wir sind ja schon vollkommen.“ Und dann kam der Vergleich mit der Pflanze oder dem Baby, das in allen Wachstumsstadien vollkommen sein kann, auch wenn es noch nicht ausgewachsen ist. (Hier geht es um zwei verschiedene Arten von Vollkommenheit, aber davon soll an dieser Stelle nicht die Rede sein; Studienhinweis Phil 3,12-15.)

Ich nenne die beiden Pole dieses 180-Grad-Phänomens „soteriologischen Präterismus und Futurismus“. Präterismus und Futurismus sind zwei Auslegungsmethoden, die Jesuiten nach der Reformation erfanden, um den Papst von dem Vorwurf reinzuwaschen, er sei der prophetisch vorausgesagte Antichristus. Beide Methoden dienten demselben Zweck: Die unangenehme Wahrheit möglichst weit von der realen Kirche der Gegenwart wegzuschieben – entweder in die ferne Vergangenheit (Präterismus = „hat sich alles schon längst erfüllt“) oder in die ferne Zukunft (Futurismus = „das kommt erst noch irgendwann“).

Oft kommt es mir vor, als würden wir mit der Erlösung das Gleiche machen: möglichst weit wegrücken von unserem realen Leben mit seinen konkreten Gedanken, Worten und Taten – entweder in die Vergangenheit („wir sind schon vollkommen“) oder in die Zukunft („das macht Jesus dann bei der Wiederkunft“). Ist das Evangelium wirklich so schwach, dass es vor dem Anspruch moralischer Vollkommenheit in die Knie gehen muss? Kann ein Christ kein ehrliches Resümee seiner Nachfolge wagen, keinen ungeschminkten Blick auf seine Lebensrealität und den Vergleich mit Gottes Maßstab der Gerechtigkeit – dem ewigen Gesetz selbstloser Liebe? Je abstrakter, je sachgebundener, je losgelöster von unserer Person Rechtfertigung und Erlösung geschehen – irgendwo weit weg im Himmel –, desto tiefer können wir durchatmen und desto größer ist unsere „Heilsgewissheit“? Das scheint mir doch ein sehr zerbrechlicher „Seelenfriede“ zu sein.

Und es vermittelt ein sehr fragliches Gottesbild – von einem Gott, der uns mit großartigen Zusicherungen aufmuntert, der Seine befreiende und heilende Macht aber bis ganz zum Schluss aufbewahrt; von einem Gott, der uns zum Gehorsam ermutigt und gleichzeitig schon weiß, dass das so richtig gar nicht klappen kann; von einem Gott, der offenbar „interessiert zuschaut“, wie wir uns abmühen, unseren bösen Neigungen gegenzusteuern, um dann nach 50, 60, 70 Jahren mit einer einzigen Berührung seines „Zauberstabs“ herbeizuführen, was Er eigentlich von Anfang hätte tun können – wenn Er nur gewollt hätte …? Welchen Sinn hätte so ein Vorgehen? In welches Licht würde es die mitfühlende Liebe und herzliche Fürsorge unseres himmlischen Vaters stellen? Ich für meinen Teil würde mich von einem solchen Gott im Stich gelassen, gequält und betrogen fühlen. Er wäre für mich weder vertrauens- noch liebenswürdig.

Die gesamte irdische Mission Jesu spricht eine völlig andere Sprache. Er ist den Menschen nahe gekommen, ganz nahe, so nahe, wie es irgend möglich war. Er war unter ihnen hörbar, fühlbar, sichtbar. Seine Hilfe war konkret, Seine Worte lebenstauglich, Seine Heilungen (Sinnbilder für Erlösung!) vollständig und vollkommen. Darin steckt eine mächtige Botschaft: Gott ist kein Theoretiker. Wir missverstehen Sein Wesen, wenn wir meinen, Er könne uns aus irgendwelchen mysteriösen Gründen momentan nur eingeschränkt Hilfe senden, und wir müssten uns mit unseren Schwächen eben irgendwie arrangieren, bis Er eines Tages dann in einem gewaltigen Handstreich alles einschließlich unserer Herzen neu und vollkommen machen würde.

Nein, Gott ist jetzt schon da! Als der Sohn Gottes Mensch wurde, erhielt er den Namen Immanuel: „Gott ist mit uns“! Es war die ungeteilte, mächtige, liebende Gegenwart des souveränen Schöpfers des Universums, die, verhüllt in eine menschliche Gestalt, auf diese Erde gekommen war. Und seit Christus wieder in den Himmel aufgefahren ist, hat der Heilige Geist Seine Stelle eingenommen und bringt uns ebenfalls die ganze Fülle der Göttlichkeit in greifbare Nähe – sogar noch näher und umfassender, als es zuvor Jesus in menschlicher Gestalt möglich gewesen war.

Auf den Punkt gebracht: Gottes Heil ist da – jetzt, hier, unmittelbar! Ja, der Weg mit Gott ist eine lebenslange Schule der Heiligung, und Anfechtungen und Kämpfe warten auf jeden einzelnen Nachfolger. Doch Gottes rettende und befreiende Gegenwart – darauf brauchen wir nicht einen Moment länger zu warten, denn sie ist nur ein Gebet weit entfernt. Im Glauben dürfen wir sie erbitten und erfahren.

LJ 252 Bitten wir um irdische Segnungen, so mag die Erhörung unseres Gebets verzögert werden oder Gott mag uns etwas anderes geben als das Erbetene. Wenn wir aber um Befreiung von der Sünde bitten, hilft er sofort. Es ist sein Wille, uns von der Sünde zu befreien, uns zu seinen Kindern zu machen und uns zu befähigen, ein gerechtes Leben zu führen.

COL 332f. Die himmlischen Wesen werden dem Menschen beistehen, der mit entschlossenem Glauben jene Vollkommenheit des Charakters anstrebt, die sich bis zur Vollkommenheit des Handelns ausstreckt. Jedem, der diese Aufgabe anpackt, sagt Christus: Ich bin zu deiner rechten Hand, um dir zu helfen.

Vergessen wir nicht: Gott hasst Sünde. Wäre es möglich, sie unverzüglich auszurotten, würde Er es tun. Wäre Gott fähig, uns in einem Moment zu heiligen, würde Er es tun – und zwar sofort bei der Bekehrung. Aber es geht eben nicht. Wir haben etwas zu lernen, wir müssen wachsen, reifen und fest werden. 6 000 Jahre Sünde lassen sich nicht auf Knopfdruck aus unserem Kopf und dieser Welt entfernen, sonst wäre doch die millionenfache Frage gerechtfertigt, warum denn Gott nichts gegen das unsägliche Leid auf der Erde unternehme. Er muss Zeit geben, damit jeder Mensch seine Chance erhält und lernt, seinen freien Willen wieder zu gebrauchen, und damit andererseits auch das Böse voll ausreift und dann nie wieder auftauchen kann.

Der Prozess von Entscheidung, Wachstum und Reife eines jeden Menschen geschieht auf dieser Erde, in diesem Leben. Bibel und Geist der Weissagung lehren einmütig und eindeutig, dass es über das Grab hinaus keine Möglichkeit einer moralischen Läuterung gibt. Jeder wird einmal ernten, was er zu Lebzeiten gesät und gepflegt hat.

Heb 9,27 Und wie es den Menschen bestimmt ist, einmal zu sterben, danach aber das Gericht,

28 so wird auch der Christus, nachdem er einmal geopfert worden ist, um vieler Sünden zu tragen, zum zweiten Male ohne Beziehung zur Sünde denen zum Heil erscheinen, die ihn erwarten.

Off 22,11 Wer unrecht tut, tue noch unrecht, und wer unrein ist, verunreinige sich noch, und wer gerecht ist, übe noch Gerechtigkeit, und wer heilig ist, sei noch geheiligt.

AH 16 Den Charakter, den du während der Gnadenzeit hast, wirst du auch bei der Wiederkunft Christi haben. Willst du ein Heiliger im Himmel sein, musst du zuerst ein Heiliger auf der Erde sein. Die Charaktermerkmale, die du im Leben entwickelst, werden nicht durch den Tod oder bei der Auferstehung geändert. Du wirst mit demselben Wesen aus dem Grab auferstehen, das du zuhause und in der Gesellschaft offenbart hast. Jesus verändert den Charakter bei seiner Wiederkunft nicht. Das Werk der Umwandlung muss jetzt getan werden. Unser tägliches Leben bestimmt unser Schicksal.

AH 319 Viele täuschen sich, wenn sie denken, dass der Charakter bei Christi Kommen umgewandelt wird, denn bei seinem Erscheinen wird es keine Herzensänderung geben. Unsere Charakterfehler müssen hier bereut werden, und durch die Gnade Christi müssen wir sie überwinden, solange noch Gnadenzeit ist.

33. Das Allerheiligste steht für Vollendung und Gericht; hier erfährt der Gläubige volle Reife und Versiegelung. Dieser Punkt ist evangelischen Christen fremd.

… und mittlerweile auch fast allen Adventisten. Wie aber in These 30 und 32 ausgeführt, ist „volle Reife“ bzw. Charaktervollkommenheit der eigentliche Sinn und Zweck von Christi Dienst seit 1844. Damit bereitet Er seine Gemeinde darauf vor, Ihm im verherrlichten Zustand in den Wolken des Himmels zu begegnen und die ewigen Wohnungen der Erlösten im Neuen Jerusalem zu beziehen.