85. „Wer das Schwert umgürtet, rühme sich nicht wie einer, der es wieder ablegt!“ (1Kön 20,11)

Haben wir vergessen, dass das Glaubensleben ein Kampf ist und erst am Ende feststeht, wer den Sieg errungen hat? Erst wenn die Ziellinie erreicht ist, haben wir den Wettlauf erfolgreich bestanden. Erst wenn die Wüste ganz durchschritten ist, können wir den Fuß auf den heiligen Boden des gelobten Landes setzen. Erst wenn die Frucht reif ist, ist sie bereit zur Ernte. Erst wenn die Braut bereit ist, weil sie das Wesen ihres Bräutigams widerspiegelt, wird die himmlische Hochzeit stattfinden:

Off 19,7 Lasst uns fröhlich sein und jubeln und ihm die Ehre geben! Denn die Hochzeit des Lammes ist gekommen, und seine Frau hat sich bereit gemacht.

8 Und es wurde ihr gegeben, sich in feine Leinwand zu kleiden, rein und glänzend; denn die feine Leinwand ist die Gerechtigkeit der Heiligen.

Im Geist der Weissagung lesen wir:

VSL 426 Wenn Sünder bei ihrer Bekehrung durch das Blut der Versöhnung Frieden mit Gott finden, hat das christliche Leben eben erst begonnen. Jetzt müssen wir „uns der vollen Reife zuwenden“ (Heb 6,1 ELB) und müssen heranwachsen zu einem vollkommenen Menschen, „zum vollen Maß der Fülle Christi.“ (Eph 4,13)

1SM 315 Nicht wer die Rüstung anlegt, kann sich des Sieges rühmen, denn er hat die Schlacht noch zu schlagen und den Sieg zu erringen, sondern wer bis zum Ende durchhält, wird gerettet werden.

Ansonsten verweise ich auf die Ausführungen unter These 83, besonders das erste Ellen-White-Zitat aus Selected Messages.

51. Zur Zeit der Reformation waren Gnade und Vergebung die große Entdeckung, heute sind es Heiligung und die Vollendung der Gemeinde seit 1844, wobei dies alles Teil eines großen Ganzen ist.

Luthers Erkenntnis einer stellvertretenden Gerechtigkeit, die dem Sünder aufgrund des Opfers Jesu zugerechnet wird, sodass er ohne Scham vor Gott treten und sich als geliebtes Kind vollkommen angenommen wissen darf, war sowohl für seinen persönlichen Glauben als auch für eine aus Angst vor einem zornigen, unberechenbaren Gott tief in abergläubische Werksgerechtigkeit verstrickte Gesellschaft ein gewaltiger Durchbruch und Grund für unbändige Freude und Erleichterung. Die kostbare Wahrheit, dass wir uns weder Gottes Liebe verdienen müssen noch von uns aus eine Versöhnung herbeizuführen brauchen, sondern dass Gott dies aus freien Stücken in Christus bereits für uns vollbracht hat und dies jedem Menschen umsonst anbietet, vergaß der Reformator sein Leben lang nicht.

Diese Wahrheiten haben bis heute nichts von ihrer Kraft verloren, und jede Generation muss sie für sich selbst entdecken und sich aneignen. Sie werden niemals veralten, doch sind sie mit den Jahren und Jahrhunderten seit der Reformation ergänzt und erweitert worden, wofür Gott unterschiedliche Personen und Bewegungen gebraucht hat, zuletzt die Gemeinde der Siebenten-Tags-Adventisten.

Ellen White hatte zu dem Punkt der fortschreitenden Erkenntnis einmal eine eindrückliche Vision (Erfahrungen und Gesichte, Kap. 10, „Das Ende der 2 300 Tage“). Sie zeigt sehr deutlich, dass es nicht ausreicht zu stehen, wo unsere Väter standen (geschweige denn die Reformatoren), wenn Gott uns inzwischen in weitere Erkenntnisse geführt hat. Jede Generation ist für das Maß an Licht verantwortlich, das ihr leuchtet, und neues Licht nicht anzunehmen oder auszuleben, hat ernste Konsequenzen.

In dieser Vision vom Februar 1845 sieht sie „einen Thron, auf dem der Vater und Sohn saßen“ (EG 45). Der Thron befindet sich im Abteil des Heiligen im himmlischen Tempel. Viele Menschen beugen sich anbetend vor dem Thron. Dann sendet Gott das helle Licht des Mitternachtsrufes aus (im Sommer 1844), doch nur die wenigsten Menschen schätzen es; selbst unter den Gläubigen widerstehen ihm viele. Darauf sieht sie, wie der Vater (eingehüllt in herrliches Licht) sich erhebt und in einem feurigen Wagen ins Allerheiligste fährt. Kurz darauf verlässt auch Jesus den Thron. Die meisten Gläubigen folgen Ihm, doch einige bemerken nichts und verharren gebeugt vor dem nun leeren Thron. Jesus weist die Gläubigen bei Ihm an, auf Ihn zu warten (S. 46). Ein Wolkenwagen bringt Ihn zum Vater, wo er Seinen abschließenden Priesterdienst tut und Sein Reich empfängt. Dann fährt die Beschreibung fort:

EG 46 (rev.) Diejenigen, die sich mit Jesus erhoben hatten, folgten ihm im Glauben in das Allerheiligste und beteten: „Vater, gib uns deinen Geist.“ Dann blies Jesus den Heiligen Geist über sie. In diesem Hauch war Licht, Macht, viel Liebe, Freude und Friede. Ich wandte mich nach der Schar um, die noch vor dem Throne lag; sie wussten nicht, dass Jesus sie verlassen hatte. Dann schien Satan bei dem Thron zu sein und zu versuchen, das Werk Gottes zu betreiben. Ich sah sie zu dem Thron aufschauen und beten: „Vater, gib uns deinen Geist.“ Satan hauchte dann einen unheiligen Einfluss über sie aus; darin waren Licht und viel Macht, aber keine süße Liebe, keine Freude und kein Friede. Satans Werk war, sie zu betrügen und Gottes Kinder irrezuführen.

Der letzte Satz lautet im Original wörtlich: „Satans Ziel war, sie unter der Täuschung zu halten und Gottes Kinder zurückzuziehen und zu täuschen.“ (Satan’s object was to keep them deceived and to draw back and deceive God’s children.) Das macht viel deutlicher, worum es geht: Die bereits Getäuschten sollten nicht merken, dass sie getäuscht sind, und Gottes Kinder, die Jesus im Glauben ins Allerheiligste gefolgt waren, sollten wieder zurückgezogen und unter dieselbe Täuschung gebracht werden. Die erste Veröffentlichung dieser Version im Day-Star vom 14. März 1846 enthält zusätzlich folgenden Schlusssatz von Ellen White (damals noch Harmon):

DS, 14.3.1846 Ich sah, wie einer nach dem anderen die Gruppe verließ, die zu Jesus im Allerheiligsten betete; sie schlossen sich den Menschen vor dem Thron an und empfingen im selben Moment den unheiligen Einfluss Satans.

Was Gott uns in diesem Gesicht offenbart, ist ziemlich ernüchternd, ja schockierend. Menschen, die vermeintlich zu Gott beten, deren Gebete aber von Satan „erhört“ werden, der unbemerkt in die Rolle des Vaters geschlüpft ist und „seinen Anbetern“ ganz ähnliche Erfahrungen zukommen lässt wie den treuen Gläubigen – eine falsche Geistausgießung, die jedoch ohne wahre Liebe, Freude und Frieden ist. Die Deutung auf den gefallenen Protestantismus, der die Verkündigung der dreifachen Engelsbotschaft abgelehnt hat, ist offensichtlich, und wir sehen die Erfüllung einer scheinbaren Geistausgießung in der von Amerika ausgehenden, weltweiten charismatischen Bewegung.

Doch der Teil, der für uns von schicksalhafter Bedeutung ist, sind die letzten zwei Sätze, die Satans Plan (und Erfolg!) schildern, selbst die Anbeter im Allerheiligsten (Siebenten-Tags-Adventisten) wieder ins Heilige zurückzuziehen, wo sie mit den übrigen Christen vereint und mit einem „unheiligen Geist“ infiziert werden. An dieser Stelle sehe ich mich zu einem Schluss gezwungen, den nicht wenige Adventisten (auch konservative) als anstößig empfinden könnten: Der Rückfall vom Allerheiligsten ins Heilige zeigt sich in der Adventgemeinde nicht nur in diversen Einflüssen evangelischen und charismatischen Ursprungs, sondern auch in der Verneinung und Bekämpfung dessen, wofür der Dienst im Allerheiligsten eigentlich steht: Vollendung der Heiligung, Vervollkommnung des Charakters, Versiegelung für die Ewigkeit.

Für unsere Pioniere war lange Zeit selbstverständlich, dass Sinn und Zweck der Heiligung ist, durch Gottes Gnade einen christusähnlichen Charakter ohne Makel zu formen. Sie standen im Glauben vor dem Thron Gottes im Allerheiligsten – der Bundeslade, die Sein heiliges, unveränderliches Gesetz enthält – und verstanden, dass dieses Gesetz nur vollkommene Liebe und vollkommene Gerechtigkeit gutheißen kann. Als sie durch die Offenbarungen des Geistes der Weissagung die Zusammenhänge des großen Kampfes besser verstanden, wurde ihnen klar, dass die bestehende Rebellion und Feindschaft gegen Gottes Autorität nur dann aus dem Universum ausgerottet werden könnte, wenn der gefallene Mensch wieder zu vollständiger Loyalität dem ewigen Gesetz gegenüber zurückgeführt würde.

Doch waren sie noch auf dem Weg und rangen um das richtige Verständnis und das praktische Ausleben dieser Überzeugung. Deshalb sandte Gott u. a. die Botschaft von 1888, um ihnen zu erklären, dass der Weg dorthin gänzlich über Christus führt, dass Seine Gerechtigkeit die Anforderungen des Gesetzes vollkommen erfüllt und dass diese Gerechtigkeit ihnen geschenkt wird (zugerechnet und verliehen), wenn sie in Demut, aufrichtiger Reue und kindlichem Vertrauen darum bitten und wenn ihnen diese eine, herrliche Perle – Christus, der Sohn Gottes – so wertvoll geworden ist, dass sie bereit sind, alles und jedes (jede Sünde) dafür aufzugeben.

Von diesem Verständnis ist heute unter uns nicht mehr viel zu finden. Der Widersacher hat es geschafft, viele wertvolle Wahrheiten, die Gott der Adventbewegung anvertraut hat, in Vergessenheit geraten zu lassen – und das, obwohl wir den Geist der Weissagung haben, der so unendlich viel und tief und eindringlich zum Volk der Übrigen gesprochen hat und es durch Ellen Whites Schriften, die doch jedermann ungehindert zugänglich sind, noch immer tut.

Ich kann es nur jedem ans Herz legen, im Großen Kampf oder Vom Schatten zum Licht die Kapitel 24 („Im Allerheiligsten“) und 28 („Das Untersuchungsgericht“) sorgfältig zu studieren und genau darauf zu achten,

  • welchen Zweck Jesu Dienst im Allerheiligsten hat und
  • wonach im Untersuchungsgericht entschieden wird, wer ewiges Leben erhält.

Würden wir dies alle tun, würden die größten Mythen über Rechtfertigung aus Glauben in der Adventgemeinde wirksam aufgelöst. Wir würden erkennen, dass wir nackt sind, weil die einzige Gerechtigkeit, die vor Gott zählt, vollkommene Gerechtigkeit ist (völlige Reinheit innen und außen), und dass Christus uns alles bedeutet, weil Er nicht nur unser Versagen mit Seinem Blut bedeckt, sondern auch unsere Nacktheit mit Seiner Vollkommenheit bekleidet, indem Er uns ein neues Herz (neue Gedanken und Gefühle) und daraus erwachsend einen neuen Charakter (neue Gewohnheiten und Wesenszüge) schenkt.

Ich fühle mich sehr mangelhaft im Erklären dieser Dinge und noch mehr in ihrem Ausleben. Ich bin selbst ein Suchender, sich Vortastender und in jeder Hinsicht Lernender. Ich schreibe diese Thesen samt Kommentar, weil mein Gewissen mich drängt und hier offenbar eine Not herrscht, da nicht viele sich öffentlich zu diesen Wahrheiten bekennen. Aber ich möchte auf drei weit bessere Quellen hinweisen:

  • die Bibel
  • den Geist der Weissagung
  • die Botschafter von 1888 (E. J. Waggoner, A. T. Jones, aber auch W. W. Prescott und S. N. Haskell) und ihre geistlichen Nachfahren wie A. G. Daniells, Taylor G. Bunch, Joe Crews, Donald K. Short, Robert J. Wieland und gegenwärtig Ron Duffield, Camron Schofield, Dennis Priebe, Margaret Davis und viele mehr)

Jeder, der die Wahrheit liebt, wird sie hier finden. Bitte die Empfehlungen im dritten Punkt auf Beröanisch studieren, d. h. alles unter Gebet und prüfend lesen! Menschen können irren. Allein Gott und Sein Wort sind unfehlbar.

33. Das Allerheiligste steht für Vollendung und Gericht; hier erfährt der Gläubige volle Reife und Versiegelung. Dieser Punkt ist evangelischen Christen fremd.

… und mittlerweile auch fast allen Adventisten. Wie aber in These 30 und 32 ausgeführt, ist „volle Reife“ bzw. Charaktervollkommenheit der eigentliche Sinn und Zweck von Christi Dienst seit 1844. Damit bereitet Er seine Gemeinde darauf vor, Ihm im verherrlichten Zustand in den Wolken des Himmels zu begegnen und die ewigen Wohnungen der Erlösten im Neuen Jerusalem zu beziehen.