92. Wie das alte Israel die Heilige Schrift selektiv las und nicht unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Kommen des Messias, so lesen viele Adventisten die Bibel selektiv und unterscheiden nicht zwischen der „Rechtfertigung des Gottlosen“ (Röm 4,5) und der „Rechtfertigung des Gehorsamen“ (Röm 2,13), zwischen Heiligung durch „Aussonderung“ (3Mo 20,26) und Heiligung zur „Untadeligkeit“ (1Thess 5,23), zwischen Versiegelung als Besitzanspruch (Eph 1,13) und Versiegelung als Bestätigung, dass der Mensch seinen Charakter „im Blut des Lammes weiß gemacht“ hat (Off 7,3.14).

Ich wünschte, ich könnte die Tragweite der Gedanken in dieser These angemessen zum Ausdruck bringen. Ich liebe meine Gemeinde und bin von ganzem Herzen Siebenten-Tags-Adventist. Ich weiß, dass der Herr am Steuer des „stolzen“ Schiffes Gemeinde steht und es sicher durch alle Stürme der letzten Zeit manövriert, die schon seit Längerem immer spürbarer wehen. Doch nachdem ich Kindheit, Jugend und nun bald 35 Taufjahre in der Gemeinde erlebt habe, nehme ich so manche Entwicklung auch schmerzlich wahr. Und die vielleicht tragischste in meinen Augen ist, dass wir immer weniger ein „Volk des Buches“ sind.

Dabei geht es nicht nur um das Lesemaß – wie viel jeder Jugendliche oder Erwachsene täglich (wöchentlich? monatlich?) in der Bibel liest; welcher Anteil Glieder sich in der Woche mit dem Lektionsthema beschäftigt; wie viele Texte in der Predigt verwendet werden usw. Vor allem fällt mir auf, was man einen wachsenden „exegetischen Analphabetismus“ nennen könnte: Wir verlernen immer mehr, die Bibel auszulegen, oder besser gesagt, die Bibel für sich selbst sprechen zu lassen.

Es würde längst nicht so viel theologische Uneinigkeit und Beliebigkeit unter uns herrschen, würden wir eine der elementarsten Grundregeln beherzigen: Biblische Aussagen müssen in ihrem direkten und im Gesamtkontext verstanden werden. Der direkte Kontext ist der Gedankengang des Abschnitts, in dem eine Aussage sich befindet; der Gesamtkontext ist das Bild, das sich beim Zusammentragen aller thematisch verwandten Aussagen ergibt. „Im Kontext“ ist das Gegenteil von „selektiv“. Keine Irrlehre und kein „babylonischer Wein“ könnten unter uns Raum finden, würden wir diese Regel konsequent und unter Gebet beachten.

Ein von mir sehr geschätzter adventistischer Theologe kommentierte die Unterscheidung von zwei Arten der Rechtfertigung in dieser These wie folgt: „Rechtfertigung ist biblisch gesehen immer der Freispruch des ‚Gottlosen‘ = Sünders (Röm 4,5), nie der Freispruch eines Gerechten.“ Den oben angeführten Vers (Röm 2,13) nannte er „die Anerkennung“ des aus Glauben Gerechten. Nun meine ich, sein berechtigtes Anliegen durchaus zu erkennen. Dennoch fällt mir auf, dass in seinem Kommentar der Begriff „Rechtfertigung“ auf einen Gebrauch wie in Römer 4,5 verengt und die „Rechtfertigung“ in Römer 2,13 in „Freispruch“ und „Anerkennung“ umbenannt wird, obwohl dort derselbe Begriff steht („gerechtfertigt“). Sollten wir es nicht der Bibel überlassen, ihre Begriffe zu definieren? Und sollten wir diese Definitionen nicht in unseren eigenen Sprachgebrauch übernehmen, um Missverständnisse zu vermeiden?

Es ist offensichtlich, dass die Heilige Schrift „Rechtfertigung“ unterschiedlich gebraucht. Hier das wohl beste Beispiel:

Röm 4,2 Wenn Abraham aus Werken gerechtfertigt worden ist, so hat er etwas zum Rühmen, aber nicht vor Gott.

Jak 2,21 Ist nicht Abraham, unser Vater, aus Werken gerechtfertigt worden, da er Isaak, seinen Sohn, auf den Opferaltar legte?

Der „Widerspruch“ lässt sich nur auflösen, wenn man den Begriff „gerechtfertigt“ anhand des Kontextes differenziert und erkennt, dass der Römer-Vers von einer anderen Art (oder einem anderen Aspekt) der Rechtfertigung spricht als der Jakobus-Vers: Die „Rechtfertigung des Gottlosen“ geschieht zu Beginn des Glaubenslebens, die „Rechtfertigung des Gerechten“ am Lebensende im Untersuchungsgericht. Die erste geschieht aufgrund des Glaubens, die zweite aufgrund der vom Glauben hervorgebrachten Werke – womit beide Arten der Rechtfertigung effektiv aus dem Glauben kommen.

Tatsächlich handelt es sich um ein und dieselbe Rechtfertigung, und ihre beiden Aspekte verhalten sich zueinander wie Verheißung und Erfüllung. Das ist die eigentliche biblische Bedeutung von „Rechtfertigung“, auch wenn sie heute fast völlig verloren gegangen ist. Von Abraham heißt es, dass seine „zugerechnete Gerechtigkeit“ in dem Moment zur „Erfüllung“ kam, als er in der Opferung Isaaks einen Gehorsam bewies, der stärker war als der Tod:

Jak 2,22 Du siehst, dass der Glaube mit seinen Werken zusammenwirkte und der Glaube aus den Werken vollendet wurde.

23 Und die Schrift wurde erfüllt, welche sagt: „Abraham aber glaubte Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet“, und er wurde „Freund Gottes“ genannt.

Mein nachdrückliches Plädoyer lautet: „Das Wort sie sollen lassen stahn!“ (Martin Luther) Nehmen wir Gottes Wort in allen seinen Bestandteilen gleichermaßen an! Eine selektive Erlösungstheologie, wo Rechtfertigung nur aus Glauben geschieht, Heiligung nur die Aussonderung für Gott ist und Versiegelung nur das Empfangen des Heiligen Geistes – alles Dinge, die augenblicklich und vollständig bei der Bekehrung geschehen – hat naturgemäß wenig Platz für einen Prozess des Wachsen, Reifens, Überwindens und noch weniger Platz für ein klar vorgegebenes Ziel wie Charaktervollkommenheit.

Unter dieser selektiven Theologie kränkelt und leidet unsere Gemeinde seit vielen Jahrzehnten, und sie ist das größte Hindernis für wahre Erweckung und Reformation, weil sie ein Heil verkündet, für das weder Erweckung noch Reformation wirklich notwendig sind, da meine Erlösung in Christus ja schon vollbracht und sicher ist. Wozu also die Aufregung? Warum der moralische Druck? Weshalb die ständigen Appelle und Weckrufe? Erfreuen wir uns lieber an dem, was wir längst besitzen …

Bleiben wir bei dieser Theologie, werden auch Lauheit und Weltlichkeit bleiben – und schlimmer werden. Kehren wir mit Gottes Hilfe zurück zur biblischen Rechtfertigungs- und Erlösungslehre, werden die Hindernisse für die ersehnte Erweckung und den Spätregen verschwinden. Der Herr wird uns gnädig vergeben und Gewaltiges bewirken. Und bald, sehr bald, wird Er kommen und uns für immer zu sich holen. Die zweite Option ist meine große Sehnsucht, und dafür kämpfe ich – in meinem persönlichen Glauben und Leben und in dieser Gemeinde, die unsere geistliche Familie ist. Und meine herzliche Bitte an dich, lieber Leser, ist, dich diesem Anliegen anzuschließen!

90. „Der Lohn der Sünde ist der Tod.“ (Röm 6,23) Wahre Rechtfertigung geht dem Problem an die Wurzel und befreit von Sünde; falsche Rechtfertigung gibt sich damit zufrieden, vom Tod befreit zu werden.

Wenn ein reicher Vater immer wieder die Schulden seines spielsüchtigen Sohnes begleicht, ohne das eigentliche Problem anzugehen, nämlich die Sucht, nennt man das Ko-Abhängigkeit. Das scheinbare Wohlwollen des Vaters ist in Wirklichkeit das größte Hindernis für die Heilung seines Sohnes, weil es ständig nur die Folgen der destruktiven Gewohnheit vom Sohn fernhält und damit den Erkenntnis- und Lernprozess verhindert, der die Voraussetzung für eine Entscheidung zu echter Veränderung ist. Auf diese Weise wird der Vater mitschuldig am Lebensstil seines Sohnes, der sich immer mehr vertieft und immer schwerer zu überwinden wird, je länger die Situation der Ko-Abhängigkeit anhält.

Die falsche Rechtfertigungslehre degradiert Christus in letzter Konsequenz zu einem Ko-Abhängigen, dessen Aufgabe es ist, die Folgen der Sünde von uns fernzuhalten, ohne die Sünde selbst zu beseitigen – eine Art künstliche Lebensverlängerung von Sünder und Sünde. Dieses Zerrbild von Mittlerdienst existiert schon sehr lange. Die Bibel nennt einen solchen Priester „Diener der Sünde“, und Paulus beantwortet die Frage, ob dies auf unseren Hohepriester Jesus Christus zutreffe, mit einem energischen: „Das sei ferne!“ (Gal 2,17)

89. Die seit vielen Jahren immer freizügigere Handhabung adventistischer Maßstäbe – in Bezug auf Ernährung, Kaffee, Kleidung, Musik, Fernsehen, Sabbatgestaltung, Taufbekenntnis, wilde Ehe, Gemeindezucht, Homosexualität und vieles mehr – offenbart den Sauerteig einer falschen Rechtfertigungslehre.

Ich möchte nicht abstreiten, dass der adventistische Lebensstil in der Vergangenheit mitunter von menschlichen Traditionen geprägt war, die der gleichen Quelle entsprungen waren wie die 613 Regeln der Pharisäer. Es ist zweifellos ein Fortschritt, wenn grundlose oder übermäßige Einengungen überwunden und abgelegt werden. Gottes Ordnungen haben nie den Sinn, unsere Freiheit zu beschneiden, sondern sie zu wahren. Ich bin aber ebenso überzeugt, dass die große Mehrheit adventistischer Lebensregeln – wie oben beispielhaft aufgeführt – sinnvoll, konstruktiv und biblisch begründet ist. Die „Freiheit“, die wir im schrittweisen Abschütteln dieser Regeln erlangt haben, ist tatsächlich bloß die Freiheit schrittweiser Selbstzerstörung. Was gleichzeitig deutlich macht, wie „fortschrittlich“ diese neue Art Adventismus wirklich ist.

Hinter der Freude über die neue Freizügigkeit in der Adventgemeinde steckt meines Erachtens eine latente Gesetzesfeindlichkeit, die wiederum von einem mangelhaften Verständnis des Wesens der göttlichen Gebote gespeist wird. Hier zeigt sich der Kern des großen Kampfes zwischen Licht und Finsternis, zwischen Gehorsam und Rebellion. Die Schrift bezeugt vielfältig und unmissverständlich, dass Gottes vollkommene Güte sich in einem vollkommen guten Gesetz widerspiegelt. Wie Gott in Seinem Charakter liebevoll, wahrhaftig, gerecht, gütig und heilig ist, so tragen auch alle Seine Ordnungen dieselbe Handschrift. Gottes Lebensregeln abzulehnen, hieße darum, Gottes überströmende Liebe abzulehnen. Nur ein völlig irregeführtes Kind würde sich willentlich gegen die Liebe seiner Eltern wehren. Aber genau das tun wir, wenn wir gute adventistische Maßstäbe ablehnen und dabei noch meinen, wir hätten etwas gewonnen. Das ist traurige Blindheit, und leider ist dieser Realitätsverlust ein Merkmal der letzten Gemeinde.

Was dieses Abschütteln-Wollen von Standards mit einer falschen Rechtfertigungslehre gemein hat, ist die Gesetzesfeindlichkeit. Die evangelischen Kirchen machen keinen Hehl aus ihrer Überzeugung, das Gesetz sei von Christus ans Kreuz genagelt worden, weswegen auch das Sabbatgebot keine Gültigkeit mehr habe und Sabbathalten sogar als Zeichen legalistischen Verdienstdenkens gelten müsse, wo man sich den Weg in den Himmel erarbeiten möchte und damit die durch Jesu Tod erworbene Gnade effektiv ablehne.

Der progressive Adventismus hat versucht, diese babylonische Irrlehre subtil in das adventistische Lehrgebäude zu integrieren, und das Ergebnis ist, dass wir heute überkommene Formen von Glaubensüberzeugungen aufrechterhalten, deren Inhalte längst ausgehöhlt oder gar ausgetauscht worden sind. Dies zeigt sich zum Beispiel darin, dass wir einerseits an ein himmlisches Heiligtum glauben, in dessen Bundeslade sich die Zehn Gebote befinden, wozu das Sabbatgebot gehört, dessen bleibende Gültigkeit wir mit großem theologischen Scharfsinn zu verteidigen wissen, wir es andererseits jedoch genießen, am Sabbat möglichst uneingeschränkt das zu tun, zu reden und zu denken, wonach uns der Sinn steht. Es zeigt sich auch darin, dass einerseits die Wenigsten so weit gehen würden, unsere theologischen Alleinstellungsmerkmale (landmarks) über Bord zu werfen, wir andererseits beim Taufbekenntnis den Täuflingen aber die größte inhaltliche Freiheit lassen und (zumal wenn Gäste da sind) alles möglicherweise „sektiererisch“ wirkende Abfragen bestimmter Lehrpunkte (vor allem der „Sonderlehren“) für unnötig und überholt erachten. Es zeigt sich auch dann, wenn wir selbst offenkundige Sünder in der Gemeinde ungestört und unangetastet lassen, weil ja die „Liebe“ wichtiger und größer ist als „strikter Gehorsam“ (obwohl doch gerade die Liebe „die Erfüllung des Gesetzes“ ist).

Ich sehe daher das Dilemma, dass wir theoretisch zwar für das Gesetz kämpfen, praktisch aber oft für die Freiheit vom Gesetz. Bedenken wir: Wenn das Gesetz geht, geht der Gesetzgeber mit. Will Er Seine Gemeinde trotzdem nicht aufgeben, bleibt Ihm nur, vor der Tür zu stehen und anzuklopfen (Off 3,20).

88. Die Frucht wahrer Rechtfertigung ist wachsende Übereinstimmung mit Gottes Geboten, die Frucht falscher Rechtfertigung wachsende Freizügigkeit gegenüber Gottes Geboten.

Jes 8,20 „Zum Gesetz und zum Zeugnis!“ – wenn sie nicht so sprechen, gibt es für sie kein Morgenrot.

Ps 119,97 Wie habe ich dein Gesetz so lieb! Ich sinne darüber nach den ganzen Tag.

FW 52 Wahrer Glaube verlässt sich ganz auf Christus, was die Erlösung angeht, doch führt er auch zu vollkommener Übereinstimmung mit Gottes Gesetz. (vgl. GW 50)

RH, 22.4.1902 Wer das Evangelium annimmt, … erhält Anteil an der göttlichen Natur und wächst mehr und mehr zu einem Abbild seines Heilands. Schritt für Schritt geht er in Übereinstimmung mit Gottes Willen voran, bis er Vollkommenheit erreicht.

Jesu zusammenfassende Worte bei der Bergpredigt werden in ihrem wahren Gewicht oft nicht erkannt:

Mt 7,24 Jeder nun, der diese meine Worte hört und sie tut, den werde ich mit einem klugen Mann vergleichen, der sein Haus auf den Felsen baute;

25 und der Platzregen fiel herab, und die Ströme kamen, und die Winde wehten und stürmten gegen jenes Haus; und es fiel nicht, denn es war auf den Felsen gegründet.

26 Und jeder, der diese meine Worte hört und sie nicht tut, der wird mit einem törichten Mann zu vergleichen sein, der sein Haus auf den Sand baute;

27 und der Platzregen fiel herab, und die Ströme kamen, und die Winde wehten und stießen an jenes Haus; und es fiel, und sein Fall war groß.

Der „Fall“ des törichten Mannes ist deshalb „groß“, weil er unerwartet kommt und dennoch endgültig ist. Dieses Bild beschreibt die endzeitliche Sichtung unserer Gemeinde. Der törichte Mann hat allem Anschein nach alles, was einen Christen ausmacht – das ganze Gebäude ist vorhanden, nicht anders als beim klugen Mann. Der einzige, aber entscheidende Unterschied ist das im Erdboden verborgene und für menschliche Augen unsichtbare Fundament.

Der törichte Mann ist ein Scheinchrist oder Scheinadventist, der sich auf eine Glaubenslehre und ein „Evangelium“ verlassen hat, das auch ohne „ein Leben beständigen Gehorsams“ (LJ 666) auskommt. Er hat nie verstanden, dass Gott „vollkommene Übereinstimmung mit Gottes Gesetz“ von uns erwartet und dass Christus genau dies in uns bewirkt, wenn wir uns in „wahrem Glauben ganz auf Ihn verlassen“ (FW 52). Diese sittliche Vollkommenheit wiederherzustellen, ist das lebenslange Werk unserer Heiligung. Und sie geschieht nicht in der Selbstbeobachtung, sondern im Hinschauen auf unseren wunderbaren Erlöser; nicht aus eigener Kraft, sondern aus der Tote auferweckenden Kraft des Heiligen Geistes.

Dieses ewige und einzige Evangelium – Vollkommenheit durch Christus – wird überall in der Bibel beschrieben, aber wir haben offensichtlich gelernt, es systematisch zu übersehen oder als bloße „Zurechnung“ wirkungslos zu machen. Ein paar Beispiele aus dem Neuen Testament:

Eph 4,11 Und er hat die einen als Apostel gegeben und andere als Propheten, andere als Evangelisten, andere als Hirten und Lehrer,

12 zur Ausrüstung der Heiligen für das Werk des Dienstes, für die Erbauung des Leibes Christi,

13 bis wir alle hingelangen zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zur vollen Mannesreife, zum Vollmaß des Wuchses der Fülle Christi.

Phil 1,9 Um dieses bete ich, dass eure Liebe noch mehr und mehr überreich werde in Erkenntnis und aller Einsicht,

10 damit ihr prüft, worauf es ankommt, damit ihr lauter und unanstößig seid auf den Tag Christi,

11 erfüllt mit der Frucht der Gerechtigkeit, die durch Jesus Christus gewirkt wird, zur Herrlichkeit und zum Lobpreis Gottes.

Kol 4,12 Es grüßt euch Epaphras, der einer der Euren ist, ein Knecht des Christus, der allezeit in den Gebeten für euch kämpft, damit ihr fest steht, vollkommen und zur Fülle gebracht in allem, was der Wille Gottes ist.

Jak 1,2 Meine Brüder, achtet es für lauter Freude, wenn ihr in mancherlei Anfechtungen geratet,

3 da ihr ja wisst, dass die Bewährung eures Glaubens standhaftes Ausharren bewirkt.

4 Das standhafte Ausharren aber soll ein vollkommenes Werk haben, damit ihr vollkommen und vollständig seid und es euch an nichts mangelt.

So oft hören wir (und so viele glauben es), vollständiger Gehorsam sei unmöglich, solange wir unsere gefallene Natur besitzen. Dabei wird auch gerne auf die berühmte Generalkonferenz von Minneapolis verwiesen, wo nach heutigem Verständnis erfolglose Versuche, das Gesetz zu halten („Gesetzlichkeit“), von der „Gnade“ der Vergebung und dem „Glauben“ an Jesu stellvertretenden Gehorsam abgelöst wurden. Nun waren Gnade und Glaube tatsächlich zentrale Themen von Jones und Waggoner, allerdings in einem ganz anderen Sinn, als sie heute definiert werden. Um einen kleinen Einblick zu geben, was auf dieser Generalkonferenz wirklich gepredigt wurde, gebe ich hier einen Ausschnitt aus einer Ansprache wieder, die Ellen White dort am 20. Oktober 1888 hielt:

1888M 122 Worüber ich sprechen möchte, ist, wie man im Glaubensleben Fortschritte machen kann. Ich höre viele Ausflüchte: „Ich kann dies und jenes nicht ausleben.“ Was meinst du mit „dies und jenes“? Willst du sagen, das auf Golgatha für die gefallene Menschheit gebrachte Opfer sei unvollkommen gewesen, und uns sei nicht ausreichend Gnade und Kraft zur Verfügung gestellt worden, um entgegen unseren natürlichen Mängeln und Neigungen zu handeln – dass uns ein unvollständiger Erlöser gegeben worden sei? Willst du Gott die Schuld geben?

„Nun“, erwiderst du, „es war Adams Sünde.“ Du sagst: „Es war nicht meine Schuld; ich bin für seine Schuld und seinen Fall nicht verantwortlich. Jetzt sind all diese natürlichen Neigungen in mir, und ich kann nichts dafür, wenn ich diese natürlichen Neigungen auslebe.“ Wer dann? Gott vielleicht? „Warum hat Gott zugelassen, dass Satan so viel Macht über die menschliche Natur bekam?“

Dies sind Anklagen gegen den Gott des Himmels, und wenn du willst, wird er dir am Ende Gelegenheit geben, deine Anklagen gegen ihn vorzubringen. Wenn du dann vor seinem Gericht stehst, wird er seine Anklagen gegen dich vorbringen. Wie kommt es, dass sein Plädoyer lautet: „Ich kenne all die Übel und Versuchungen, die euch bedrängen, und ich habe meinen Sohn Jesus Christus in eure Welt gesandt, um euch meine Macht, meine Stärke zu offenbaren; um euch zu zeigen, dass ich Gott bin und euch helfe, damit ihr aus dem Machtbereich des Feindes herausgenommen werdet und die Möglichkeit erhaltet, das sittliche Bild Gottes zurückzugewinnen.“

Beachten wir, was Ellen White hier (und generell) unter einem „vollkommenen Opfer“ und „vollständigen Erlöser“ versteht: dass wir durch Jesu Verdienste und Vermittlung sowohl völlige Vergebung als auch völlige sittliche Wiederherstellung (= Vervollkommnung) erfahren, allen natürlichen Neigungen zum Trotz. Die Vollkommenheit des Erlösungsplanes beweist sich in unserem vollständigen Gehorsam – dass alles, was Gott von uns erwartet, wir in Seiner Kraft und durch die lebendige Verbindung mit Christus auch erfüllen können.

Dass uns dies oft nicht so gelingt, wie wir es wünschen, soll uns nicht entmutigen! Dazu sind wir in Christi Schule: um von Ihm zu lernen, wie wir durch Seine Gnadengaben den Sieg erringen können. Die großartigen Verheißungen unserer Vervollkommnung sind nicht als „Druck“ gedacht, sondern als starke Zusicherung, dass wir nicht einem Phantom nachjagen, wenn wir uns in diesen Glaubenskampf begeben. Die Gewissheit, dass der Herr Sein Wort unbedingt an uns erfüllen wird, wenn wir nur im Vertrauen an Ihm festhalten, soll uns die innere Stärke verleihen, auch in schwierigen Situationen nicht den Mut zu verlieren, sondern mit Paulus zu sagen:

Phil 3,12 Nicht, dass ich es schon ergriffen habe oder schon vollendet bin; ich jage ihm aber nach, ob ich es auch ergreifen möge, weil ich auch von Christus Jesus ergriffen bin.

13 Brüder, ich denke von mir selbst nicht, es ergriffen zu haben; eines aber tue ich: Ich vergesse, was dahinten, strecke mich aber aus nach dem, was vorn ist,

14 und jage auf das Ziel zu, hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christus Jesus.

Der Geist der Weissagung bringt uns immer wieder viel Ermutigung in dieser Hinsicht:

Mar 227 Tag für Tag soll unsere geistliche Liebenswürdigkeit wachsen. Unsere Bemühungen, das göttliche Vorbild nachzuahmen, werden oft nicht gelingen. Wir werden uns oft beugen müssen und zu Jesu Füßen weinen wegen unseres Zukurzkommens und unserer Fehler. Aber wir sollen nicht den Mut verlieren, sondern noch inniger beten, fester glauben und noch entschiedener erneut versuchen, in das Bild des Herrn zu wachsen. Wenn wir unserer eigenen Kraft misstrauen, werden wir der Macht unseres Erlösers vertrauen.

1TT 441f. Gott ist heute noch genauso mächtig, von Sünde zu retten, wie zur Zeit der Patriarchen, Davids, der Propheten und Apostel. Die unzähligen Begebenheiten der heiligen Geschichte, wo Gott sein Volk von ihren eigenen Bosheiten erlöste, sollten heutige Christen inspirieren, göttliche Weisung anzunehmen und fleißig einen Charakter zu vervollkommnen, der die gründliche Untersuchung vor Gericht bestehen wird.

Die biblische Geschichte stärkt das verzagte Herz mit der Hoffnung auf Gottes Erbarmen. Wir brauchen nicht zu verzweifeln, denn wir sehen, wie andere sich durch ähnliche Entmutigungen gekämpft haben, wie sie ebenso in Versuchungen gefallen sind wie wir und trotzdem den verlorenen Boden wiedergutgemacht haben und von Gott gesegnet worden sind. Die inspirierten Worte trösten und ermuntern die irrende Seele.

Obgleich die Patriarchen und Apostel auch nur schwache Menschen waren, erhielten sie durch den Glauben doch ein gutes Zeugnis, schlugen ihre Schlachten in der Stärke des Herrn und siegten glänzend. Wir dürfen deshalb der Kraft des sühnenden Opfers vertrauen und im Namen Jesu Überwinder sein. (vgl. 1Sch 404)

78. Laodizea braucht nicht menschliche Heilsgewissheit, sondern göttliche Heils-Ungewissheit – ein Aufrütteln aus dem gefährlichen Zustand einer falschen Rechtfertigungslehre, die blind für die Wahrheit macht.

Ein ganz wesentliches Problem mit dem gängigen Konzept von „Heilsgewissheit“ ist, dass es in aller Regel etwas Wichtiges außer Acht lässt: Jesus versucht im Brief an Laodizea, die Gemeinde der Endzeit davon zu überzeugen, dass sie unbewusst in einer falschen Gewissheit lebt. Das ist göttliche „Heilsungewissheit“ und natürlich völlig im Gegensatz zum heutigen Bemühen, möglichst allen „Heilsgewissheit“ zu vermitteln.

Gleichzeitig müssen wir betonen, dass Laodizeas Diagnose zwar sehr ernüchternd, ja schockierend ist, aber einen überaus konstruktiven und wohlwollenden Zweck verfolgt, nämlich eine gründliche geistliche Heilung. Die Wahrheit tut zuerst weh, ist aber trotzdem von tiefer Liebe motiviert, weil „der treue Zeuge“ weiß, dass allein der Weg über echte Selbsterkenntnis und „eifrige Buße“ zu dauerhafter Befreiung und wahrem Seelenfrieden führt.

Off 3,19 Ich überführe und züchtige alle, die ich liebe. Sei nun eifrig und tu Buße!

Paulus schreibt ähnlich an die Korinther, denen er einen recht strengen Brief mit zahlreichen Ermahnungen und Konfrontationen schickte, obwohl er wusste, dass es die Korinther treffen und traurig machen würde. Dem Apostel war aber klar, dass dies der einzig mögliche Weg zu Umkehr und umfassender Besserung für die Gemeinde war. Daher schreibt er etwas später in seinem zweiten Brief:

2Kor 7,9 Jetzt freue ich mich, nicht dass ihr betrübt worden, sondern dass ihr zur Buße betrübt worden seid …

10 Denn die Betrübnis nach Gottes Sinn bewirkt eine nie zu bereuende Buße zum Heil

11 Denn siehe, eben dies, dass ihr nach Gottes Sinn betrübt worden seid, wie viel Bemühen hat es bei euch bewirkt!

Paulus spricht von einer „Betrübnis nach Gottes Sinn“, die zwar zuerst unangenehm ist, aber wunderbare Früchte trägt: Sie führt zur Buße und eifrigem Bemühen und darüber zum Heil. Dieselbe „eifrige Buße“, sagt Jesus, brauchen wir als Gemeinde Laodizea. Kann es sein, dass wir unseren Geschwistern ungewollt ein „abgekürztes Heil“ vermitteln, ohne den mühsameren, aber notwendigen Weg über Trauer, Buße und echte Lebensreform („eifriges Bemühen“)? Nach meinen Erfahrungen, wonach ich in der Adventgemeinde auf fast allen Ebenen und Kanälen immer wieder auf unbiblisches, evangelisch-babylonisches Gedankengut zu Rechtfertigung und Erlösung stoße, muss ich die Frage leider mit Ja beantworten. Oder wann hast du zum letzten Mal eine Predigt darüber gehört, dass echter Glaube zu vollkommenem Gehorsam und vollendeter Heiligung führt?

Beachten wir die wunderbare und zutiefst biblische Balance im folgenden Zitat zwischen völligem Vertrauen auf Christus und völligem Gehorsam:

GW 50 Der Glaube an Christus, der die Menschen rettet, sieht nicht so aus, wie ihn viele darstellen. „Glaubt nur, glaubt!“, rufen sie, „Glaubt nur an Christus und ihr werdet gerettet. Das ist alles, was ihr zu tun habt.“ Während echter Glaube bei der Erlösung völlig auf Christus vertraut, führt er auch zur vollkommenen Übereinstimmung mit dem Gesetz Gottes. Der Glaube zeigt sich durch Werke. Und der Apostel Johannes erklärt: „Wer sagt: Ich kenne ihn, und hält seine Gebote nicht, der ist ein Lügner, und in dem ist die Wahrheit nicht.“ (1Joh 2,4)

Die Früchte zeigen die Qualität eines Baumes, und unser Leben und Verhalten Tag für Tag zeigt die Qualität der Rechtfertigung, die wir für uns beanspruchen. Wenn Gott vergibt, nimmt Er Sünde weg, und das zeigt sich in Erweckung und Reformation, in Wiedergeburt und einem neuen Leben in Liebe, Sanftmut, Güte und Gerechtigkeit. Wenn uns diese Erfahrung offensichtlich fehlt, sollten wir keine Zeit verlieren und den einzigen Weg gehen, der wirklich ans Ziel führt, nämlich uns vor Gott zu demütigen und von Ihm Sündenerkenntnis, Buße, Vergebung, Umkehr, neue Motive, neue Ziele und die Fülle Seiner Liebe und Seines Geistes schenken zu lassen. Es gibt nichts, was uns tiefer mit Freude, Dankbarkeit und Liebe erfüllen wird, als die Erfahrung zu machen, dass echte Vergebung immer die Befreiung zu einem neuen Leben in Gehorsam und vertrauensvoller Hingabe an Christus beinhaltet. Geben wir uns nicht mit weniger zufrieden! Das wäre nicht nur falsche Bescheidenheit, sondern eine Gefahr fürs Seelenheil. Suchen wir das Echte, das Original – den einen, wahren Christus und das eine, wahre, „ewige Evangelium“. Das ist nicht nur für unsere persönliche Erlösung notwendig, sondern auch für unseren Auftrag der globalen Verkündigung der Dreiengelbotschaft.

66. Statt eine „klinisch reine“, von allen menschlichen Werken separierte Rechtfertigung als das Heil zu predigen, sollten Adventisten sich bewusst werden, dass „das Reich Gottes nicht im Wort besteht, sondern in Kraft“ (1Kor 4,20).

Das Reich Gottes kann nicht allein durch himmlische Buchungsvorgänge (zugerechnete Gerechtigkeit) gebaut werden, denn nur wiedergeborene Menschen können dort hineingelangen, wie Jesus Nikodemus sagte. Diese wundersame Neuschöpfung und Wiederherstellung des Menschen ist ein Beweis der ungeheuren Macht Gottes zu unserer Rettung. Deswegen nennt Paulus das Evangelium auch nicht nur eine gute Botschaft (Worte), sondern eine „zum Heil“ notwendige „Kraft Gottes“:

Röm 1,16 Ich schäme mich des Evangeliums nicht, ist es doch Gottes Kraft zum Heil jedem Glaubenden …

(Randbemerkung: Würden wir das Evangelium mehr als Kraft erleben, nicht nur als eine Menge „guter Worte“, dann würden wir unsere Scheu vor Zeugnisgeben und Mission verlieren und es begeistert an allen Hecken und Zäunen ausrufen. Und das ist auch Gottes Plan mit der Botschaft an Laodizea, die, wenn sie wirklich akzeptiert und gelebt wird, in den Lauten Ruf münden wird!)

Der Geist der Prophetie bringt die zwei Säulen der „Gerechtigkeit aus Glauben“ einfach verständlich auf den Punkt:

RH, 4.6.1895 Die Gerechtigkeit, die uns rechtfertigt, ist zugerechnet; die Gerechtigkeit, die uns heiligt, ist verliehen. Die erste ist unser Anrecht auf den Himmel, die zweite unsere Eignung für den Himmel. (vgl. RJ 20)

Jetzt kann man lange darüber diskutieren, welche Art Gerechtigkeit wohl wichtiger oder gar entscheidend für unseren Eintritt in den Himmel ist, doch die schlichte Wahrheit ist: Beide sind gleich unverzichtbar.

Dafür ein Beispiel. Nehmen wir an, du erhältst eine schriftliche Einladung zu einer ganz besonderen Festlichkeit. Das Eintrittsticket liegt bei und ist für dich umsonst; die einzige Bedingung ist, dass die Gäste elegante Kleidung tragen. Nun gibt es drei Möglichkeiten, wie du zur Feier erscheinen kannst, aber nur eine Möglichkeit, am Fest wirklich teilzunehmen:

  1. Du nimmst das Ticket mit, kommst aber in Jeans und T-Shirt.
    Resultat: Dein Ticket beweist zwar, dass du zur Festgesellschaft gehörst, aber du erhältst keinen Einlass, weil du unpassend angezogen bist.
  2. Du ziehst deine beste Garderobe an, vergisst aber dein Ticket.
    Resultat: Du bist zwar passend angezogen, aber nicht zur Teilnahme berechtigt.
  3. Du nimmst das Ticket mit und kommst in deiner besten Garderobe.
    Resultat: Du bist sowohl zur Teilnahme berechtigt als auch passend angezogen – du wirst eingelassen!

Jetzt ist Gott nicht nur ein guter Gastgeber, sondern auch ein sehr gnädiger. Weil er weiß, dass kein Mensch auf dieser Erde die passende Garderobe für Sein himmlisches Hochzeitsfest hat, lässt Er nicht nur jedem von uns eine schriftliche Einladung mit Ticket zukommen, sondern stellt gleichzeitig die nötige Kleidung zur Verfügung – beides völlig kostenfrei.

Diese Situation beschreibt Jesus in Seinem Gleichnis von der Hochzeitsfeier. Im Orient war es üblich, dass der Gastgeber nicht nur einlud, sondern auch für passende Feierkleider sorgte. Da die Gäste nichts weiter zu tun hatten, als das bereitgestellte, feierliche Kleid anzuziehen, war es ein Affront gegen den Hausherrn, wenn ein Gast dies missachtete und in Alltagskleidung erschien. Daher findet der Ertappte im Gleichnis auch keine Entschuldigung und bleibt stumm.

Mt 22,11 Als aber der König hereinkam, die Gäste zu besehen, sah er dort einen Menschen, der nicht mit einem Hochzeitskleid bekleidet war.

12 Und er spricht zu ihm: Freund, wie bist du hier hereingekommen, da du kein Hochzeitskleid hast? Er aber verstummte.

13 Da sprach der König zu den Dienern: Bindet ihm Füße und Hände, und werft ihn hinaus in die äußere Finsternis: da wird das Weinen und das Zähneknirschen sein.

„Denn viele sind Berufene, wenige aber Auserwählte“, heißt es im nächsten Vers. Mit anderen Worten: Viele haben die Einladung erhalten, viele hätten das Recht, an der Feier teilzunehmen, doch auserwählte Gäste sind am Ende nur diejenigen, die auch das Hochzeitskleid tragen. Dieses Kleid ist mehr als Vergebung oder Rechtfertigung – es steht für einen neuen, christusähnlichen Charakter:

Kol 3,9 Belügt einander nicht, da ihr den alten Menschen mit seinen Handlungen ausgezogen

10 und den neuen angezogen habt, der erneuert wird zur Erkenntnis nach dem Bild dessen, der ihn erschaffen hat! …

12 Zieht nun an als Auserwählte Gottes, als Heilige und Geliebte: herzliches Erbarmen, Güte, Demut, Milde, Langmut! …

14 Zu diesem allen aber zieht die Liebe an, die das Band der Vollkommenheit ist!

Röm 13,14 … zieht den Herrn Jesus Christus an …

Damit wir die wahrlich heilsentscheidende Bedeutung des hochzeitlichen Kleides nicht missverstehen, hat Gott sie uns durch Ellen White zusätzlich erklärt. Zuerst einmal, wozu es nicht da ist:

OHC 214 Heiligung ist ein Zustand der Heiligkeit, außen und innen heilig zu sein und ganz und gar dem Herrn zu gehören, nicht förmlich, sondern wahrhaftig. Jede Unreinheit der Gedanken, jede begehrende Lust trennt die Seele von Gott, denn Christus kann sein Kleid der Gerechtigkeit niemals einem Sünder anziehen, um dessen Mangelhaftigkeit zu verbergen.

Nun das Hochzeitskleid, wie es in Christi Gleichnisse beschrieben wird (teils schon in These 62 zitiert):

COL 312 Christus hat als Mensch einen vollkommenen Charakter ausgeformt, und sein Angebot ist, uns diesen Charakter zu verleihen … Der Sohn Gottes ist „geoffenbart worden, damit er die Sünden wegnehme; und Sünde ist nicht in ihm.“ (1Jo 3,5) … Durch seinen vollkommenen Gehorsam hat er es jedem Menschen möglich gemacht, Gottes Geboten zu gehorchen. Wenn wir uns Christus ausliefern, wird das Herz mit seinem Herzen vereint, der Wille geht in seinem Willen auf, die Gesinnung wird eins mit seiner Gesinnung, die Gedanken werden gefangen genommen unter ihn – wir leben sein Leben. Das bedeutet es, mit dem Kleid seiner Gerechtigkeit bekleidet zu sein. Wenn der Herr uns dann anschaut, sieht er keinen Schurz aus Feigenblättern, nicht die Nacktheit und Entstelltheit der Sünde, sondern sein eigenes Gewand der Gerechtigkeit, nämlich vollkommenen Gehorsam gegenüber dem Gesetz Jehovas.

Kurz darauf erklärt sie, warum „Charakter“ und „Werke“ eng verwandt sind und beide ihren Ursprung im Glauben an Christus haben:

COL 312 Gerechtigkeit bedeutet, das Rechte zu tun, und es sind die Taten, nach denen jeder gerichtet werden wird. Unser Charakter offenbart sich darin, was wir tun. Die Werke zeigen, ob der Glaube echt ist.

Wenn wir also „nach Werken“ gerichtet werden, werden wir eigentlich „nach Charakter“ gerichtet und noch eigentlicher „nach dem Glauben“, der die Werke hervorgebracht und auf diese Weise unseren Charakter geformt hat. Tatsächlich steht also unser Glaube auf dem Prüfstand. Und ein gerechter Charakter ist, wie schon in These 60 angesprochen, tatsächlich die Frucht des Glaubens, ist „Gerechtigkeit aus Glauben“, ist „Vollkommenheit aus Glauben“ – vollständige Vergebung und vollständige Neuschöpfung, die auf dem kindlichen Vertrauen auf Christus als persönlichen Erlöser und der Wahrhaftigkeit Seiner Verheißungen beruhen.

3SM 172 Worin besteht der „Glaube Jesu“ in der dritten Engelsbotschaft? … Zu glauben, dass Christus in der Lage ist, uns überschwänglich und völlig und gänzlich zu retten – das ist der Glaube Jesu.

Diesen Glauben wünsche ich uns von ganzem Herzen. Wir brauchen ihn so sehr! Und der Herr wartet darauf, ihn uns zu schenken, wenn wir „Buße tun“ – umdenken.

58. Alle Werke Gottes sind vollkommen. Da Rechtfertigung und Heiligung Gottes Werk sind, sind sie notwendigerweise auch vollkommen.

Ich erinnere an die Bibeltexte aus These 38 über Gottes Handeln:

5Mo 32,4 … vollkommen ist sein Tun …

2Sam 22,31 … sein Weg ist vollkommen …

Pred 3,14 … alles, was Gott tut, ist für ewig …

Jak 1,17 … jedes vollkommene Geschenk kommt … von dem Vater …

Eigenartigerweise betonen gerade diejenigen, die Erlösung als alleiniges Handeln Gottes (und nicht des Menschen) definieren, mit Nachdruck, dass eine völlige Heiligung der Gläubigen in diesem Leben eine Illusion sei, und verweisen als Grund für diese Unmöglichkeit auf die Schwachheit und Verdorbenheit unseren gefallenen Natur. Doch wenn Heiligung das Werk Gottes ist, wie kann sie dann von menschlicher Schwachheit behindert werden?

Das zweite Problem mit dem Verweis auf die menschliche Schwachheit ist, dass nach dieser Sichtweise ein mögliches Zusammenspiel eines vollkommenen Gottes und unvollkommener Menschen (in diesem Fall bei der Heiligung) zwangsweise zu einem unvollkommenen Resultat führt. Damit spricht sie der menschlichen Unvollkommenheit größeren Einfluss zu als der göttlichen Vollkommenheit. Sie sagt praktisch: Wenn Gott und Mensch zusammenarbeiten, wird unter dem Strich der Mensch diesem gemeinsamen Werk den Stempel der Unvollkommenheit aufdrücken, statt dass Gott ihm den Stempel der Vollkommenheit aufdrückt. Was letztlich dem Eingeständnis gleichkommt, das Böse sei mächtiger als das Gute.

Die Bibel sagt das Gegenteil.

Röm 5,20 Wo die Sünde überströmend geworden ist, ist die Gnade noch überschwänglicher geworden.

Röm 12,21 Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse durch das Gute!

Das Heiligtum lehrt uns, dass „hochheilige“ Gegenstände wie der Brandopferalter nicht entheiligt werden konnten, sondern im Gegenteil alles heiligten, was sie berührte:

2Mo 29,37 Sieben Tage sollst du Sühnung am Altar vollziehen und ihn dadurch heiligen. So wird der Altar hochheilig sein: alles, was den Altar berührt, ist geheiligt.

Diese hoffnungsvolle Symbolik findet im Messias ihre tiefste Erfüllung, denn wenn Christus in Gemeinschaft mit dem Sünder kommt, wird nicht Er verunreinigt, sondern der Sünder gereinigt! Ellen White illustriert diesen Punkt auf eindrückliche Weise anhand der Heilung des Aussätzigen:

LJ 252 Jesu Wundertat an dem Aussätzigen veranschaulicht sein Wirken, die Seele von Sünden zu reinigen. Der Mann, der zu Jesus kam, war „voll Aussatz“, dessen tödliches Gift seinen ganzen Körper durchdrang. Die Jünger suchten ihren Meister daran zu hindern, ihn anzurühren; denn wer einen Aussätzigen berührte, verunreinigte sich selbst. Jesus aber wurde dadurch, dass er seine Hand auf den Aussätzigen legte, nicht verunreinigt; seine Berührung übertrug lebenspendende Kräfte, und der Kranke wurde geheilt. So verhält es sich auch mit dem Aussatz der Sünde … Wenn der Herr im Herzen des Menschen wohnt, wird kein Makel ihn je erreichen [wörtl.: Jesus, coming to dwell in humanity, receives no pollution]; seine Gegenwart übt eine heilende Kraft auf den Sünder aus.

Jesu Gegenwart besitzt „heilende Kraft“! Selbst wenn Heiligung menschliche Mitarbeit einschließt (was biblisch zutrifft), gibt es daher keinen Grund, vollkommene Heiligung mit Hinweis auf die menschliche Schwachheit für unmöglich zu erklären. Wenn Gott da ist, wird selbst ein gewöhnlicher menschlicher Gegenstand wie Moses Hirtenstab so mächtig, dass er ein stolzes Imperium wie das alte Ägypten in die Knie zwingt.

47. Diese Behauptung ist vielmehr symptomatisch dafür, dass die Gemeinde unter den Einfluss der Kirchen Babylons geraten ist und die Botschaft von 1888 im Rückblick durch die Brille evangelischer Rechtfertigungslehre umdeutet.

Wenn die Botschaft von 1888 angenommen worden ist, wie heute von der Mehrheit unserer Theologen, Historiker und Leiter beteuert wird, darf sie natürlich nichts enthalten, was wir heute nicht lehren und leben. Sie muss unserem gängigen Rechtfertigungsverständnis entsprechen, und das ist nun einmal evangelisch gelagert, d. h., die zugesprochene (forensische) Gerechtigkeit Christi ist allein entscheidend für unser Heil und ebenso für unseren Freispruch im Gericht. Adventisten mögen deutlich mehr Gewicht auf Heiligung legen als evangelische Christen, doch solange das Maß der Heiligung beliebig ist (sie muss nicht „vollendet“ werden) und der Charakter kein Kriterium im Untersuchungsgericht darstellt, bleibt ihre Rechtfertigungslehre im Grundsatz auf derselben Linie. Und demzufolge kann auch die (so nannte Ellen White sie) „äußerst kostbare Botschaft“ von Jones und Waggoner in Minneapolis nichts anderes gewesen sein als Erlösung durch zugesprochene Gerechtigkeit.

Die nächste Konsequenz aus diesem Geschichtsverständnis ist, dass unser geistlicher Zustand bzw. unsere Rechtfertigung nichts mit der Wiederkunft zu tun haben darf. Es darf keinen kausalen Zusammenhang nach dem Schema „A führt zu B“ – „Rechtfertigung führt zur Wiederkunft“ – geben, weil sonst die seit 130 Jahren ausbleibende Wiederkunft die Beteuerung unseres Gerechtfertigtseins gründlich ad absurdum führen würde. Also muss der Zeitpunkt der Wiederkunft vom Faktor Mensch und unserer geistlichen Verfassung weitgehend abgekoppelt und stattdessen der göttlichen Souveränität überantwortet werden.

Woraus weiterhin eine bestimmte Sichtweise vom Dienst im Allerheiligsten seit 1844 folgt, denn Jesu Dienst darf dann ebenso wenig mit unserem geistlichen Zustand zu tun haben, da dieser ja grundsätzlich in Ordnung ist, aufgrund unserer Annahme der 1888 verkündeten Botschaft der Rechtfertigung aus Glauben. Es findet z. B. kein notwendiger Läuterungsprozess statt, da wir aufgrund der zugerechneten Gerechtigkeit für die Wiederkunft längst bereit sind und eigentlich nur noch warten – bzw. das Evangelium in alle Welt tragen müssen (dieser letzte Punkt wird dann schon zugestanden, weil er scheinbar unabhängig von unserer Rechtfertigung ist).

Auch wenn die letzten Absätze vielleicht etwas ironisch klingen, machen sie mich tatsächlich tief traurig. Wir leben bestenfalls in großer Unkenntnis, schlimmstenfalls in willigem Selbstbetrug. Und wir lesen eindeutig zu wenig oder zu oberflächlich den Geist der Weissagung, sonst könnten solche Irrtümer unmöglich so reichen Nährboden finden.

27. So entstand in der evangelischen Christenheit ein einseitiges Erlösungsverständnis, das Rechtfertigung als Erlösung an sich verstand statt als einen Teil der Erlösung.

Luther stand mit beiden Beinen auf dem Boden. Er hatte einen sehr praktischen Begriff von Glauben und hat die wichtige Bedeutung von Nachfolge und Gehorsam im Leben des Christen durchaus erkannt und verkündigt. Auch hat sich sein theologisches Verständnis der Erlösung im Laufe seines Lebens gewandelt, indem er sich von einer rein forensischen Rechtfertigung („Gerechtsprechung“) näher zu einer effektiven Rechtfertigung („Gerechtmachung“ = Heiligung) hinbewegte. Sein jahrelanges Ringen um die rechte Einordnung des Jakobus-Briefes und letztlich „Versöhnung“ mit diesem Teil des Neuen Testamentes sind Ausdruck dieser Entwicklung.

Nach Luthers Tod gab es nicht wenig Streit um die wahre „evangelische Lehre“, und durchgesetzt hat sich die Strömung der „Gnesio-Lutheraner“, die sein Schrifttum selektiv und einseitig im Sinne einer streng forensischen Rechtfertigung gebrauchten. Dieses Erbe zeigt sich heute in weiten Teilen der evangelischen Christenheit und ist ein wesentlicher Grund für die vorherrschende Abneigung gegen das Gesetz Gottes und den Glaubensgehorsam.

Wenn man tiefer darüber nachdenkt, ist es eigentlich erstaunlich und traurig, dass so viele aufrichtige und gutmeinende Christen fest davon überzeugt sind, die Misere des gefallenen Menschen ließe sich allein durch „virtuelle Gerechtigkeit“ lösen, allein durch eine Art himmlische Kontobewegung zugunsten der Schuldigen, allein durch ein göttliches „Übersehen“ unserer Sündigkeit, weil sie durch Jesu Blut bedeckt sei. In diesem Sinne werden die Soli der Reformation ja gerne gebraucht – als könnten wir durch etwas erlöst werden, das rein außerhalb von uns stattfindet, wo doch die Sünde unser Inneres wie ein böser Krebs komplett befallen hat!

Ich sage dies in keiner Weise, um den Gedanken der Stellvertretung Jesu als unser Sühneopfer irgendwie anzuzweifeln oder zu schmälern – er ist eine der zwei Säulen der Erlösung –, sondern um die äußerste Sinnlosigkeit aufzuzeigen, würde es allein dabei bleiben! Was könnte der Vorstellung einer „externen Erlösung“ radikaler widersprechen als das Bild, das Jesus im nächtlichen Gespräch mit Nikodemus gebrauchte:

Joh 3,3 Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen.

„In Christus“ zu sein ist weit mehr, als seine Stellvertretung in Anspruch zu nehmen:

2Kor 5,17 Darum: Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen; siehe, es ist alles neu geworden!

Schon der alttestamentliche Heiligtumsdienst zeigte, dass es nicht ausreichend war, das Opfertier zu schlachten – das Blut musste auch zur Anwendung kommen, indem es vom Priester in das Heiligtum getragen und mit verschiedenen Gegenständen in Berührung kam. Dieser Dienst der Versöhnung geschieht seit Pfingsten im Himmel durch Christus und auf der Erde durch den Heiligen Geist. Über die Notwendigkeit dieses über Golgatha hinausreichenden Erlösungswerkes lesen wir im Leben Jesu:

LJ 670 [Der Heilige Geist] sollte uns als eine erneuernde Kraft erfüllen, ohne die das Opfer Christi wertlos gewesen wäre

Beachten wir, wie der Heilige Geist, der die Worte jenes Buches inspiriert hat, anschließend seine eigene Aufgabe erklärt:

LJ 670 Nur durch die machtvolle Kraft der dritten Person der Gottheit konnte der Sünde widerstanden und sie überwunden werden … [Der Geist] reinigt das Herz, und durch ihn wird der Gläubige Teilhaber der göttlichen Natur. Christus hat seinen Geist als eine göttliche Kraft gegeben, um alle ererbten und anerzogenen Neigungen zum Bösen zu überwinden und seiner Gemeinde sein Wesen aufzuprägen.

Böse Neigungen zu überwinden und Jesu Wesen zu erhalten, gehen nach dem letzten Satz Hand in Hand. Durch die Gemeinschaft mit Jesus, die der Heilige Geist herstellt, werden wir befähigt, den Hang zur Sünde zu überwinden. Und durch das Überwinden von Sünde vertieft sich die Gemeinschaft mit Jesus, weil im Herzen mehr Raum für Ihn entsteht. Und je mehr Er uns ausfüllt, desto mehr wird Sein Bild in uns wiederhergestellt – bis wir durch Jesu Gnade und priesterlichen Mittlerdienst als vollständige Sieger dastehen.