91. Damit befindet sich das heutige Israel auf demselben Weg wie das alte Israel, das sich einen Messias wünschte, der sie von den Römern befreite, ohne zu verstehen, dass es ihre Sünden waren, die die Fremdherrscher überhaupt erst ins Land brachten.

Hes 18,4 Die Seele, die sündigt, sie soll sterben.

5 Und wenn jemand gerecht ist und Recht und Gerechtigkeit übt …

9 in meinen Ordnungen lebt und meine Rechtsbestimmungen hält, um sie getreu zu befolgen: gerecht ist er. Leben soll er, spricht der Herr, HERR.

Der Erlösungsplan ist nicht und war nie dazu gedacht, die göttlich begründete Gesetzmäßigkeit von Ursache und Wirkung – Gehorsam bringt Leben, Ungehorsam bringt Tod – aufzuheben. Christi Tod am Kreuz hat die ewige Unauflöslichkeit dieser Gesetzmäßigkeit ultimativ und unanfechtbar bewiesen. Sein stellvertretendes Leiden hat dem Menschen eine Generalamnestie und eine mit allen geistlichen Privilegien versehene, zweite Bewährungszeit verschafft, in der wir durch das Werben und Wirken der göttlichen Liebe und Gnade zur ursprünglichen Loyalität zurückgeführt werden sollen. Aus Liebe zu Seinen irrenden Geschöpfen zügelt Gott Seine eigene Gerechtigkeit, um einen Zeitkorridor der Rettung zu ermöglichen.

PK 195f. Die Langmut Gottes war bisher sehr groß — so überaus groß, dass wir uns wundern, wenn wir die fortgesetzte Übertretung seiner heiligen Gebote bedenken. Der Allmächtige hat sich Zurückhaltung auferlegtGott räumt den Menschen eine Zeit zur Bewährung ein; es gibt aber eine ganz bestimmte Grenze, hinter der die göttliche Geduld erschöpft ist und die Gerichte Gottes die sichere Folge sind.

Golgatha hat Gottes Gerechtigkeit nicht im Geringsten geschmälert, sondern vielmehr auf ewig bestätigt. Rettung bedeutet daher, dass der Sünder Vergebung erhält und wieder zur Gerechtigkeit zurückgeführt wird. Damit ist aber nicht das so gängige Verständnis von „Gerechtigkeit“ gemeint, „große“ Sünden wie Ehebruch und Diebstahl ganz zu lassen und „kleine“ Sünden wie Stolz und Gerüchtestreuen, so gut es geht, einzudämmen, sondern vollkommene Gerechtigkeit – die einzige Gerechtigkeit, die in der Bibel und im ganzen Universum existiert, die einzige, die Gott anerkennt und die im Gericht gilt, und – dem HERRN sei Dank! – die einzige, die Jesus anzubieten hat.

Es macht mir Mühe, dies in Worte zu fassen, weil ich oft empfinde, dass wir uns ausgesprochen schwertun, diese so essenzielle und lebenswichtige Wahrheit zu erfassen und anzunehmen. Wir sind in einer ähnlichen Situation wie die Juden bei Jesu erstem Kommen, die sich einreden konnten, sie seien doch ein freies Volk, weil sie noch ihren Hohen Rat und begrenzt eine eigene Gerichtsbarkeit hatten. Sie hatten nicht das Gefühl, Befreiung zu brauchen, und behaupteten vor Jesus:

Joh 8,33 Wir sind Abrahams Nachkommen und sind nie jemandes Knechte gewesen; wie kannst du da sagen: Ihr sollt frei werden?

In ähnlicher Weise sind viele Gemeindeglieder überzeugt, sie bräuchten keine „Vollkommenheit“, da ihr adventistischer Lebensstil doch der beste Beweis dafür sei, dass es um ihr Heil gut bestellt sei: Freiheit von den „großen“ Sünden und das „aufrichtige Bemühen“, auch die anderen nicht überschießen zu lassen. Ist das nicht die „Freiheit der Kinder Gottes“? Reicht das nicht, zumal wir am Ende sowieso „aus Gnade“ erlöst und freigesprochen werden? Die Frage des heutigen Israel lautet praktisch:

Wir sind Luthers Nachkommen und immer unter der Gnade gewesen. Wie kannst du da sagen: Ihr sollt vollkommen sein?

Jesu Antwort ist dieselbe wie damals:

Joh 8,34 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Jeder, der die Sünde tut, ist der Sünde Sklave.

35 Der Sklave aber bleibt nicht für immer im Haus; der Sohn bleibt für immer.

36 Wenn nun der Sohn euch frei machen wird, so werdet ihr wirklich frei sein.

Es sind nicht nur die großen Sünden, die versklaven – nein, auch die kleinen. Jede Sünde. „Wirklich frei“ zu sein, heißt darum, von jeder Sünde frei zu sein. Und das tut Jesus an uns, indem Er uns von Knechten der Sünde zu „Söhnen Gottes“ macht – neu geboren durch den Heiligen Geist. Er gestaltet Herz und Sinn so wirksam um, dass wir am Ende Gottes Bild vollkommen widerspiegeln. Vergessen wir nie: „Ihr nun sollt vollkommen sein“ (Mt 5,48) ist zwar eine Aufforderung, zuerst und zuvorderst jedoch eine Verheißung.

Im Buch Schritte zu Jesus lesen wir, wie „klein“ die „kleinen Sünden“ wirklich sind:

SzJ 37 Nur ein einziger falscher Charakterzug, ein einziges sündiges, beharrlich gepflegtes Verlangen wird schließlich die ganze Kraft des Evangeliums aufheben.

Doch dann folgen wunderbare Worte der Ermutigung:

38 Wenn du das furchtbare Ausmaß der Sünde erkennst, wenn du dich selbst so siehst, wie du wirklich bist, dann gib nicht auf und verzweifle nicht! Christus kam, um die Sünder zu retten. Wir müssen nicht Gott mit uns versöhnen, sondern – o wunderbare Liebe! – Gott „versöhnte die Welt in Christus mit sich selbst“ (2Kor 5,19). Mit inniger Liebe wirbt er um die Herzen seiner irrenden Kinder …

39 Wenn Satan kommt und dir sagen will, dass du ein großer Sünder bist, dann blicke auf zu deinem Heiland und rede von seinen Verdiensten. Schau in sein Licht, das allein wird dir helfen. Gib deine Sünde zu, doch sage dem Feind, dass „Christus in die Welt gekommen ist, um die Sünder zu retten“ (1Tim 1,15), und dass du durch seine unvergleichliche Liebe errettet werden kannst.

Mit Blick auf das christliche Leben als ein Wettlauf schreibt Ellen White:

AA 313 Nicht einer, der den Bedingungen nachkommt, wird am Ende des Wettlaufs enttäuscht werden. Nicht einer, der ernst und ausdauernd ist, wird das Ziel verfehlen. Der Lauf gehört nicht dem Schnellen noch die Schlacht dem Starken. Der schwächste Heilige kann ebenso wie der stärkste einmal die Krone unsterblicher Herrlichkeit tragen. Alle können siegen, die durch die Kraft göttlicher Gnade ihr Leben in Einklang mit dem Willen Christi bringen. (vgl. WA 313)

Dem Herrn sei Dank, dass es nicht an unserer, sondern an Seiner Kraft liegt!

90. „Der Lohn der Sünde ist der Tod.“ (Röm 6,23) Wahre Rechtfertigung geht dem Problem an die Wurzel und befreit von Sünde; falsche Rechtfertigung gibt sich damit zufrieden, vom Tod befreit zu werden.

Wenn ein reicher Vater immer wieder die Schulden seines spielsüchtigen Sohnes begleicht, ohne das eigentliche Problem anzugehen, nämlich die Sucht, nennt man das Ko-Abhängigkeit. Das scheinbare Wohlwollen des Vaters ist in Wirklichkeit das größte Hindernis für die Heilung seines Sohnes, weil es ständig nur die Folgen der destruktiven Gewohnheit vom Sohn fernhält und damit den Erkenntnis- und Lernprozess verhindert, der die Voraussetzung für eine Entscheidung zu echter Veränderung ist. Auf diese Weise wird der Vater mitschuldig am Lebensstil seines Sohnes, der sich immer mehr vertieft und immer schwerer zu überwinden wird, je länger die Situation der Ko-Abhängigkeit anhält.

Die falsche Rechtfertigungslehre degradiert Christus in letzter Konsequenz zu einem Ko-Abhängigen, dessen Aufgabe es ist, die Folgen der Sünde von uns fernzuhalten, ohne die Sünde selbst zu beseitigen – eine Art künstliche Lebensverlängerung von Sünder und Sünde. Dieses Zerrbild von Mittlerdienst existiert schon sehr lange. Die Bibel nennt einen solchen Priester „Diener der Sünde“, und Paulus beantwortet die Frage, ob dies auf unseren Hohepriester Jesus Christus zutreffe, mit einem energischen: „Das sei ferne!“ (Gal 2,17)

87. Liebe zu Jesus bewirkt immer eine tiefe Sehnsucht, gänzlich frei von Sünde zu werden und ein Leben beständigen Gehorsams zu führen, im Einklang mit Ihm.

Ps 97,10 Die ihr den HERRN liebt, hasst das Böse!

Amos 3,3 LUT Können etwa zwei miteinander wandern, sie seien denn einig untereinander?

Joh 14,15 Liebt ihr mich, so haltet meine Gebote!

TSB 135 Wenn du zu Jesus kommst und in demütiger Reue deine Sünden bekennst, wird Er dir deine Sünden vergeben und dich von jeder Ungerechtigkeit reinigen. Erst wenn du die Sünde hasst und Reinheit, Wahrheit und Gerechtigkeit liebst, kannst du von der Sünde lassen.

BE, 1.11.1893 Wer gerettet werden will, muss seinen Blick auf Jesus halten. Indem er Christus betrachtet, lernt er, die Sünde zu hassen, die seinem Erlöser Leid und Tod gebracht hat. Im Anschauen wird sein Glaube stark, und er lernt „den einzig wahren Gott und Jesus Christus, den Er gesandt hat“, kennen. Der Sünder sieht Jesus, wie Er ist – voller Mitgefühl und zärtlicher Liebe –, und indem er die Offenbarung Seiner großen Liebe zum gefallenen Menschen im Leiden auf Golgatha betrachtet, wird sein Charakter verwandelt.

DA 668 Wenn wir Gott so kennen, wie es unser Vorrecht ist, werden wir ein Leben beständigen Gehorsams führen. Weil wir Christi Charakter so wertschätzen und Gemeinschaft mit Gott haben, werden wir die Sünde hassen. (vgl. LJ 666)

AG 294 Durch Anschauen werden wir verändert werden, und wenn wir über die Vollkommenheit des göttlichen Vorbilds nachdenken, wird der Wunsch da sein, vollständig umgewandelt zu werden, erneuert im Bild seiner Reinheit. Durch den Glauben an den Sohn Gottes wird der Charakter verwandelt, und aus dem Kind des Zorns wird ein Kind Gottes.

40. „Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ (Mt 5,48) Dieses Gebot ist eine Verheißung. Der Erlösungsplan hat unsere vollständige Befreiung aus der Macht Satans zum Ziel.

Wer Das Leben Jesu kennt, weiß, dass diese These wörtlich daraus zitiert ist (S. 300). Diese wenigen Sätze fassen im Grunde das Evangelium zusammen. Sie bestätigen, dass Gott Vollkommenheit erwartet („Gebot“), weil Er sie selbst verwirklicht („Verheißung“), und dass Erlösung als ein Zusammenspiel von göttlicher Aktion („Erlösung, Befreiung“) und menschlicher Reaktion (Gehorsam gegenüber dem „Ihr sollt“) geschieht, dessen Ziel die „vollständige Freiheit“ ist, mit der Gott die ersten Menschen ausgestattet hatte.

Der Geist der Weissagung schildert uns, wie Jesus selbst durch das Zusammenspiel von Gottes „Geboten“ und „Verheißungen“ aus dem großen Kampf mit dem Teufel als Sieger hervorging:

MH 181 Der Heiland überwand, um den Menschen zu zeigen, wie sie überwinden können. Allen Versuchungen Satans begegnete Christus mit dem Wort Gottes. Indem er Gottes Verheißungen vertraute, empfing er Kraft, Gottes Geboten zu gehorchen, und der Versucher konnte keinen Vorteil erringen.

Überlegen wir einmal: Gott als barmherziger Vater und liebender Schöpfer würde niemals auch nur annähernd gefallenen Geschöpfen wie dir und mir etwas „gebieten“, von dem Er wüsste, dass wir dazu beim besten Willen nicht in der Lage wären. Selbst menschliche Eltern mit ihrer so begrenzten Liebesfähigkeit kämen nicht auf den Gedanken, ihre Kinder mit derartigen Forderungen zu quälen – wie viel mehr der Vater aller Väter!

Ellen White schreibt zum obigen Bibelvers (Mt 5,48) an anderer Stelle:

ST, 3.9.1902 Vor aller Welt lässt Gott uns zu lebendigen Zeugen dafür heranwachsen, was Männer und Frauen durch die Gnade Christi werden können. Wir werden ermahnt, nach einem vollkommenen Charakter zu streben. Der göttliche Lehrer sagt: „Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.“ (Mt 5,48) Würde Christus uns damit schikanieren, dass er Unmögliches von uns verlangt? Nie und nimmer! Was für eine Ehre er uns erweist, dass er uns drängt, in unserem Bereich so heilig zu sein wie der Vater in seinem Bereich! Er kann uns dazu befähigen, denn er erklärt: „Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf Erden.“ (Mt 28,18) Wir haben das Vorrecht, diese unbegrenzte Macht in Anspruch zu nehmen.

2SM 32 Die Schrift lehrt uns, nach der Heiligung von Körper, Seele und Geist für Gott zu streben. Dabei sollen wir mit Gott zusammenarbeiten. Es kann viel getan werden, um das sittliche Bild Gottes im Menschen wiederherzustellen und die körperlichen, geistigen und moralischen Fähigkeiten zu entwickeln. Große Veränderungen können im Organismus geschehen, wenn man Gottes Gesetzen gehorcht und dem Körper nichts Unreines zuführt. Zwar können wir keine Vollkommenheit des Fleisches beanspruchen, doch dürfen wir christliche Vollkommenheit der Seele haben. Durch das für uns gebrachte Opfer können Sünden vollkommen vergeben werden. Wir stützen uns nicht darauf, was der Mensch tun kann, sondern was Gott durch Christus für den Menschen tun kann. Wenn wir uns Gott ganz übergeben und völlig glauben, reinigt Christi Blut uns von allen Sünden. Das Gewissen kann frei werden von Verdammung. Durch den Glauben an Sein Blut kann jeder in Christus Jesus vervollkommnet werden. Gott sei Dank, dass wir es nicht mit Unmöglichkeiten zu tun haben! Wir dürfen Heiligung beanspruchen. Wir dürfen Gottes Gunst genießen. Wir sollen uns nicht darüber sorgen, was Christus und Gott von uns denken, sondern was Gott von Christus, unserem Stellvertreter, denkt. Ihr seid angenommen in dem Geliebten. (vgl. 2FG 33)

Es ist ein trauriges Kapitel Adventgeschichte, dass gerade die Zusage Jesu in diesem Vers (Mt 5,48), die die wunderbare Tiefe und Überschwänglichkeit des Erlösungsplanes zum Ausdruck bringt – die Wiederherstellung der Vollkommenheit, mit der Gott uns geschaffen hat –, so häufig gemieden, bestritten und relativiert worden ist. Der erste Schritt, dieses Stück Geschichte zu einem Kapitel des Triumphes zu machen, ist einzugestehen, dass diese Worte Jesu an sich schlicht, mächtig und herrlich sind und das einzige Problem damit unser Mangel an Glauben ist. Gottes Wort steht fest, und die Erfüllung aller Seiner Versprechen ist über jeden Zweifel erhaben. Doch entscheiden persönlicher Glaube oder Unglaube darüber, an wem sich das Wort verwirklicht und an wem nicht.

Wir brauchen kindlichen Glauben! Wir sollten daher konsequent alles Glaubensstärkende pflegen und hegen, zweifelnde Überlegungen hingegen verbannen und ihnen keinen Raum geben. Daher abschließend noch ein glaubensstärkender Gedanke aus dem obigen Vers: Unsere Vollkommenheit ist die natürliche Folge daraus, dass unser Vater vollkommen ist. Wir werden vollkommen sein, weil unser Vater vollkommen ist! Das ist das „Gesetz geistlicher Vererbung“. Wir bringen diese Vollkommenheit nicht aus uns selbst hervor, sondern Gott hat sie in uns hineingelegt, als Er uns durch die Wiedergeburt zu Seinen Kindern gemacht – „gezeugt“ – hat. Wenn wir Ihm so unbekümmert vertrauen, wie Kinder es natürlicherweise tun, schaffen wir den nötigen Raum, dass dieser göttliche Same der Vollkommenheit wachsen und reifen kann. Die Sonne der Gerechtigkeit Christi und der Regen des Heiligen Geistes werden die Frucht hervorbringen, die Gott bereits im Samenkorn verborgen hat. Das sind Naturgesetze. Nichts kann sie aufhalten – außer unserem Zweifel. Deshalb lasst uns unserem Vater im Himmel vertrauen! Er kann und wird uns nicht enttäuschen.