89. Die seit vielen Jahren immer freizügigere Handhabung adventistischer Maßstäbe – in Bezug auf Ernährung, Kaffee, Kleidung, Musik, Fernsehen, Sabbatgestaltung, Taufbekenntnis, wilde Ehe, Gemeindezucht, Homosexualität und vieles mehr – offenbart den Sauerteig einer falschen Rechtfertigungslehre.

Ich möchte nicht abstreiten, dass der adventistische Lebensstil in der Vergangenheit mitunter von menschlichen Traditionen geprägt war, die der gleichen Quelle entsprungen waren wie die 613 Regeln der Pharisäer. Es ist zweifellos ein Fortschritt, wenn grundlose oder übermäßige Einengungen überwunden und abgelegt werden. Gottes Ordnungen haben nie den Sinn, unsere Freiheit zu beschneiden, sondern sie zu wahren. Ich bin aber ebenso überzeugt, dass die große Mehrheit adventistischer Lebensregeln – wie oben beispielhaft aufgeführt – sinnvoll, konstruktiv und biblisch begründet ist. Die „Freiheit“, die wir im schrittweisen Abschütteln dieser Regeln erlangt haben, ist tatsächlich bloß die Freiheit schrittweiser Selbstzerstörung. Was gleichzeitig deutlich macht, wie „fortschrittlich“ diese neue Art Adventismus wirklich ist.

Hinter der Freude über die neue Freizügigkeit in der Adventgemeinde steckt meines Erachtens eine latente Gesetzesfeindlichkeit, die wiederum von einem mangelhaften Verständnis des Wesens der göttlichen Gebote gespeist wird. Hier zeigt sich der Kern des großen Kampfes zwischen Licht und Finsternis, zwischen Gehorsam und Rebellion. Die Schrift bezeugt vielfältig und unmissverständlich, dass Gottes vollkommene Güte sich in einem vollkommen guten Gesetz widerspiegelt. Wie Gott in Seinem Charakter liebevoll, wahrhaftig, gerecht, gütig und heilig ist, so tragen auch alle Seine Ordnungen dieselbe Handschrift. Gottes Lebensregeln abzulehnen, hieße darum, Gottes überströmende Liebe abzulehnen. Nur ein völlig irregeführtes Kind würde sich willentlich gegen die Liebe seiner Eltern wehren. Aber genau das tun wir, wenn wir gute adventistische Maßstäbe ablehnen und dabei noch meinen, wir hätten etwas gewonnen. Das ist traurige Blindheit, und leider ist dieser Realitätsverlust ein Merkmal der letzten Gemeinde.

Was dieses Abschütteln-Wollen von Standards mit einer falschen Rechtfertigungslehre gemein hat, ist die Gesetzesfeindlichkeit. Die evangelischen Kirchen machen keinen Hehl aus ihrer Überzeugung, das Gesetz sei von Christus ans Kreuz genagelt worden, weswegen auch das Sabbatgebot keine Gültigkeit mehr habe und Sabbathalten sogar als Zeichen legalistischen Verdienstdenkens gelten müsse, wo man sich den Weg in den Himmel erarbeiten möchte und damit die durch Jesu Tod erworbene Gnade effektiv ablehne.

Der progressive Adventismus hat versucht, diese babylonische Irrlehre subtil in das adventistische Lehrgebäude zu integrieren, und das Ergebnis ist, dass wir heute überkommene Formen von Glaubensüberzeugungen aufrechterhalten, deren Inhalte längst ausgehöhlt oder gar ausgetauscht worden sind. Dies zeigt sich zum Beispiel darin, dass wir einerseits an ein himmlisches Heiligtum glauben, in dessen Bundeslade sich die Zehn Gebote befinden, wozu das Sabbatgebot gehört, dessen bleibende Gültigkeit wir mit großem theologischen Scharfsinn zu verteidigen wissen, wir es andererseits jedoch genießen, am Sabbat möglichst uneingeschränkt das zu tun, zu reden und zu denken, wonach uns der Sinn steht. Es zeigt sich auch darin, dass einerseits die Wenigsten so weit gehen würden, unsere theologischen Alleinstellungsmerkmale (landmarks) über Bord zu werfen, wir andererseits beim Taufbekenntnis den Täuflingen aber die größte inhaltliche Freiheit lassen und (zumal wenn Gäste da sind) alles möglicherweise „sektiererisch“ wirkende Abfragen bestimmter Lehrpunkte (vor allem der „Sonderlehren“) für unnötig und überholt erachten. Es zeigt sich auch dann, wenn wir selbst offenkundige Sünder in der Gemeinde ungestört und unangetastet lassen, weil ja die „Liebe“ wichtiger und größer ist als „strikter Gehorsam“ (obwohl doch gerade die Liebe „die Erfüllung des Gesetzes“ ist).

Ich sehe daher das Dilemma, dass wir theoretisch zwar für das Gesetz kämpfen, praktisch aber oft für die Freiheit vom Gesetz. Bedenken wir: Wenn das Gesetz geht, geht der Gesetzgeber mit. Will Er Seine Gemeinde trotzdem nicht aufgeben, bleibt Ihm nur, vor der Tür zu stehen und anzuklopfen (Off 3,20).

88. Die Frucht wahrer Rechtfertigung ist wachsende Übereinstimmung mit Gottes Geboten, die Frucht falscher Rechtfertigung wachsende Freizügigkeit gegenüber Gottes Geboten.

Jes 8,20 „Zum Gesetz und zum Zeugnis!“ – wenn sie nicht so sprechen, gibt es für sie kein Morgenrot.

Ps 119,97 Wie habe ich dein Gesetz so lieb! Ich sinne darüber nach den ganzen Tag.

FW 52 Wahrer Glaube verlässt sich ganz auf Christus, was die Erlösung angeht, doch führt er auch zu vollkommener Übereinstimmung mit Gottes Gesetz. (vgl. GW 50)

RH, 22.4.1902 Wer das Evangelium annimmt, … erhält Anteil an der göttlichen Natur und wächst mehr und mehr zu einem Abbild seines Heilands. Schritt für Schritt geht er in Übereinstimmung mit Gottes Willen voran, bis er Vollkommenheit erreicht.

Jesu zusammenfassende Worte bei der Bergpredigt werden in ihrem wahren Gewicht oft nicht erkannt:

Mt 7,24 Jeder nun, der diese meine Worte hört und sie tut, den werde ich mit einem klugen Mann vergleichen, der sein Haus auf den Felsen baute;

25 und der Platzregen fiel herab, und die Ströme kamen, und die Winde wehten und stürmten gegen jenes Haus; und es fiel nicht, denn es war auf den Felsen gegründet.

26 Und jeder, der diese meine Worte hört und sie nicht tut, der wird mit einem törichten Mann zu vergleichen sein, der sein Haus auf den Sand baute;

27 und der Platzregen fiel herab, und die Ströme kamen, und die Winde wehten und stießen an jenes Haus; und es fiel, und sein Fall war groß.

Der „Fall“ des törichten Mannes ist deshalb „groß“, weil er unerwartet kommt und dennoch endgültig ist. Dieses Bild beschreibt die endzeitliche Sichtung unserer Gemeinde. Der törichte Mann hat allem Anschein nach alles, was einen Christen ausmacht – das ganze Gebäude ist vorhanden, nicht anders als beim klugen Mann. Der einzige, aber entscheidende Unterschied ist das im Erdboden verborgene und für menschliche Augen unsichtbare Fundament.

Der törichte Mann ist ein Scheinchrist oder Scheinadventist, der sich auf eine Glaubenslehre und ein „Evangelium“ verlassen hat, das auch ohne „ein Leben beständigen Gehorsams“ (LJ 666) auskommt. Er hat nie verstanden, dass Gott „vollkommene Übereinstimmung mit Gottes Gesetz“ von uns erwartet und dass Christus genau dies in uns bewirkt, wenn wir uns in „wahrem Glauben ganz auf Ihn verlassen“ (FW 52). Diese sittliche Vollkommenheit wiederherzustellen, ist das lebenslange Werk unserer Heiligung. Und sie geschieht nicht in der Selbstbeobachtung, sondern im Hinschauen auf unseren wunderbaren Erlöser; nicht aus eigener Kraft, sondern aus der Tote auferweckenden Kraft des Heiligen Geistes.

Dieses ewige und einzige Evangelium – Vollkommenheit durch Christus – wird überall in der Bibel beschrieben, aber wir haben offensichtlich gelernt, es systematisch zu übersehen oder als bloße „Zurechnung“ wirkungslos zu machen. Ein paar Beispiele aus dem Neuen Testament:

Eph 4,11 Und er hat die einen als Apostel gegeben und andere als Propheten, andere als Evangelisten, andere als Hirten und Lehrer,

12 zur Ausrüstung der Heiligen für das Werk des Dienstes, für die Erbauung des Leibes Christi,

13 bis wir alle hingelangen zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zur vollen Mannesreife, zum Vollmaß des Wuchses der Fülle Christi.

Phil 1,9 Um dieses bete ich, dass eure Liebe noch mehr und mehr überreich werde in Erkenntnis und aller Einsicht,

10 damit ihr prüft, worauf es ankommt, damit ihr lauter und unanstößig seid auf den Tag Christi,

11 erfüllt mit der Frucht der Gerechtigkeit, die durch Jesus Christus gewirkt wird, zur Herrlichkeit und zum Lobpreis Gottes.

Kol 4,12 Es grüßt euch Epaphras, der einer der Euren ist, ein Knecht des Christus, der allezeit in den Gebeten für euch kämpft, damit ihr fest steht, vollkommen und zur Fülle gebracht in allem, was der Wille Gottes ist.

Jak 1,2 Meine Brüder, achtet es für lauter Freude, wenn ihr in mancherlei Anfechtungen geratet,

3 da ihr ja wisst, dass die Bewährung eures Glaubens standhaftes Ausharren bewirkt.

4 Das standhafte Ausharren aber soll ein vollkommenes Werk haben, damit ihr vollkommen und vollständig seid und es euch an nichts mangelt.

So oft hören wir (und so viele glauben es), vollständiger Gehorsam sei unmöglich, solange wir unsere gefallene Natur besitzen. Dabei wird auch gerne auf die berühmte Generalkonferenz von Minneapolis verwiesen, wo nach heutigem Verständnis erfolglose Versuche, das Gesetz zu halten („Gesetzlichkeit“), von der „Gnade“ der Vergebung und dem „Glauben“ an Jesu stellvertretenden Gehorsam abgelöst wurden. Nun waren Gnade und Glaube tatsächlich zentrale Themen von Jones und Waggoner, allerdings in einem ganz anderen Sinn, als sie heute definiert werden. Um einen kleinen Einblick zu geben, was auf dieser Generalkonferenz wirklich gepredigt wurde, gebe ich hier einen Ausschnitt aus einer Ansprache wieder, die Ellen White dort am 20. Oktober 1888 hielt:

1888M 122 Worüber ich sprechen möchte, ist, wie man im Glaubensleben Fortschritte machen kann. Ich höre viele Ausflüchte: „Ich kann dies und jenes nicht ausleben.“ Was meinst du mit „dies und jenes“? Willst du sagen, das auf Golgatha für die gefallene Menschheit gebrachte Opfer sei unvollkommen gewesen, und uns sei nicht ausreichend Gnade und Kraft zur Verfügung gestellt worden, um entgegen unseren natürlichen Mängeln und Neigungen zu handeln – dass uns ein unvollständiger Erlöser gegeben worden sei? Willst du Gott die Schuld geben?

„Nun“, erwiderst du, „es war Adams Sünde.“ Du sagst: „Es war nicht meine Schuld; ich bin für seine Schuld und seinen Fall nicht verantwortlich. Jetzt sind all diese natürlichen Neigungen in mir, und ich kann nichts dafür, wenn ich diese natürlichen Neigungen auslebe.“ Wer dann? Gott vielleicht? „Warum hat Gott zugelassen, dass Satan so viel Macht über die menschliche Natur bekam?“

Dies sind Anklagen gegen den Gott des Himmels, und wenn du willst, wird er dir am Ende Gelegenheit geben, deine Anklagen gegen ihn vorzubringen. Wenn du dann vor seinem Gericht stehst, wird er seine Anklagen gegen dich vorbringen. Wie kommt es, dass sein Plädoyer lautet: „Ich kenne all die Übel und Versuchungen, die euch bedrängen, und ich habe meinen Sohn Jesus Christus in eure Welt gesandt, um euch meine Macht, meine Stärke zu offenbaren; um euch zu zeigen, dass ich Gott bin und euch helfe, damit ihr aus dem Machtbereich des Feindes herausgenommen werdet und die Möglichkeit erhaltet, das sittliche Bild Gottes zurückzugewinnen.“

Beachten wir, was Ellen White hier (und generell) unter einem „vollkommenen Opfer“ und „vollständigen Erlöser“ versteht: dass wir durch Jesu Verdienste und Vermittlung sowohl völlige Vergebung als auch völlige sittliche Wiederherstellung (= Vervollkommnung) erfahren, allen natürlichen Neigungen zum Trotz. Die Vollkommenheit des Erlösungsplanes beweist sich in unserem vollständigen Gehorsam – dass alles, was Gott von uns erwartet, wir in Seiner Kraft und durch die lebendige Verbindung mit Christus auch erfüllen können.

Dass uns dies oft nicht so gelingt, wie wir es wünschen, soll uns nicht entmutigen! Dazu sind wir in Christi Schule: um von Ihm zu lernen, wie wir durch Seine Gnadengaben den Sieg erringen können. Die großartigen Verheißungen unserer Vervollkommnung sind nicht als „Druck“ gedacht, sondern als starke Zusicherung, dass wir nicht einem Phantom nachjagen, wenn wir uns in diesen Glaubenskampf begeben. Die Gewissheit, dass der Herr Sein Wort unbedingt an uns erfüllen wird, wenn wir nur im Vertrauen an Ihm festhalten, soll uns die innere Stärke verleihen, auch in schwierigen Situationen nicht den Mut zu verlieren, sondern mit Paulus zu sagen:

Phil 3,12 Nicht, dass ich es schon ergriffen habe oder schon vollendet bin; ich jage ihm aber nach, ob ich es auch ergreifen möge, weil ich auch von Christus Jesus ergriffen bin.

13 Brüder, ich denke von mir selbst nicht, es ergriffen zu haben; eines aber tue ich: Ich vergesse, was dahinten, strecke mich aber aus nach dem, was vorn ist,

14 und jage auf das Ziel zu, hin zu dem Kampfpreis der Berufung Gottes nach oben in Christus Jesus.

Der Geist der Weissagung bringt uns immer wieder viel Ermutigung in dieser Hinsicht:

Mar 227 Tag für Tag soll unsere geistliche Liebenswürdigkeit wachsen. Unsere Bemühungen, das göttliche Vorbild nachzuahmen, werden oft nicht gelingen. Wir werden uns oft beugen müssen und zu Jesu Füßen weinen wegen unseres Zukurzkommens und unserer Fehler. Aber wir sollen nicht den Mut verlieren, sondern noch inniger beten, fester glauben und noch entschiedener erneut versuchen, in das Bild des Herrn zu wachsen. Wenn wir unserer eigenen Kraft misstrauen, werden wir der Macht unseres Erlösers vertrauen.

1TT 441f. Gott ist heute noch genauso mächtig, von Sünde zu retten, wie zur Zeit der Patriarchen, Davids, der Propheten und Apostel. Die unzähligen Begebenheiten der heiligen Geschichte, wo Gott sein Volk von ihren eigenen Bosheiten erlöste, sollten heutige Christen inspirieren, göttliche Weisung anzunehmen und fleißig einen Charakter zu vervollkommnen, der die gründliche Untersuchung vor Gericht bestehen wird.

Die biblische Geschichte stärkt das verzagte Herz mit der Hoffnung auf Gottes Erbarmen. Wir brauchen nicht zu verzweifeln, denn wir sehen, wie andere sich durch ähnliche Entmutigungen gekämpft haben, wie sie ebenso in Versuchungen gefallen sind wie wir und trotzdem den verlorenen Boden wiedergutgemacht haben und von Gott gesegnet worden sind. Die inspirierten Worte trösten und ermuntern die irrende Seele.

Obgleich die Patriarchen und Apostel auch nur schwache Menschen waren, erhielten sie durch den Glauben doch ein gutes Zeugnis, schlugen ihre Schlachten in der Stärke des Herrn und siegten glänzend. Wir dürfen deshalb der Kraft des sühnenden Opfers vertrauen und im Namen Jesu Überwinder sein. (vgl. 1Sch 404)