83. Objektiv „gewiss“ ist unsere Erlösung erst am Ende unseres Lebens bzw. bei der Wiederkunft.

Mit „objektiv gewiss“ meine ich: endgültig, faktisch unumkehrbar. Eine genauere Formulierung des Zeitpunkts, an dem diese Unumkehrbarkeit eintritt, wäre: „erst, wenn sie im Untersuchungsgericht bestätigt worden ist“. Es steht allein in der Autorität des himmlischen Gerichts und damit des Sohnes Gottes, dem der Vater „das ganze Gericht gegeben hat“ (Joh 5,22), das endgültige Urteil über jedes einzelne menschliche Schicksal festzustellen und auszusprechen. Wenn jemand sein Heil für eine bereits entschiedene „Gewissheit“ hält, weiß er nicht nur mehr als der Himmel, sondern verletzt ungewollt auch das göttliche Privileg des Richtens.

Jak 4,12 Einer ist Gesetzgeber und Richter, der zu erretten und zu verderben vermag. Du aber, wer bist du, der du den Nächsten richtest?

Das biblische Verbot zu richten schließt das eigene Schicksal mit ein. Obwohl Paulus dazu auffordert: „Prüft euch selbst, ob ihr im Glauben seid“ (2Kor 13,5) – ein Feststellen des gegenwärtigen Zustands –, distanziert er sich vom „Urteilen“ oder „Richten“ – dem Feststellen des endgültigen Zustands:

1Kor 4,3 Mir aber ist es das Geringste, dass ich von euch oder von einem menschlichen Gerichtstag beurteilt werde; auch beurteile ich mich nicht selbst.

4 Denn ich bin mir nichts bewusst; aber damit bin ich nicht gerechtfertigt, sondern der Herr ist es, der mich beurteilt.

5 Darum richtet nichts vor der Zeit, bis der Herr kommt, der auch das im Finstern Verborgene ans Licht bringen und die Absichten der Herzen offenbar machen wird; und dann wird jedem das Lob von Gott zuteil werden.

Vers 4 scheint mir hier besonders wichtig. Sogar dann, wenn wir vor uns selbst mit reinem Gewissen dastehen („ich bin mir nichts bewusst“), was an sich ein wunderbarer und zweifellos erstrebenswerter Zustand ist, birgt dies nicht die Gewissheit, dass Gott uns ebenso beurteilt. Paulus’ Feststellung entspringt dem tiefen Bewusstsein der Grenzen und Fehlbarkeit menschlichen Urteilsvermögens. In Bezug auf Gottes Treue und Barmherzigkeit dürfen wir in der Tat von absoluter Sicherheit sprechen; mit Blick auf unsere angeborene Untreue ist es jedoch mehr als angemessen, eine äußerst demütige und bescheidene Haltung einzunehmen und das letzte Urteil Gott zu überlassen. Es gibt hier eine feine Trennlinie zwischen friedvollem Gottvertrauen, was das eigene Schicksal anbelangt, und einer Anmaßung, die die eigene Nichtigkeit übersieht.

Ist uns bewusst, dass der Geist der Weissagung, der generell zu unglaublich viel Mut, Freude und Zuversicht im Christenleben inspiriert, ausdrücklich davor warnt, sich als „gerettet“ im Sinne einer endgültigen Tatsache anzusehen? Ellen White schreibt:

1SM 314f. Wir dürfen niemals die Hände zufrieden in den Schoß legen und keine Fortschritte mehr machen, indem wir sagen: „Ich bin gerettet.“ Wer so denkt, verliert seine Motivation für Wachsamkeit, Gebet und den ernsthaften Vorwärtsdrang hin zu höheren Zielen. Keine geheiligte Zunge wird diese Worte je aussprechen, bis Christus kommt und wir durch die Tore der Stadt Gottes einziehen. Dann können wir mit vollstem Recht Gott und das Lamm für unsere ewige Erlösung verherrlichen. Solange der Mensch voller Schwachheit ist – denn er selbst kann seine Seele nicht retten –, sollte er es niemals wagen zu sagen: „Ich bin gerettet.“

Die Propagierung einer unbiblischen „Heilsgewissheit“ verleitet Geschwister dazu, diese klare Warnung zu missachten, oder verunsichert sie mit dem Eindruck, ihr Glaubensleben sei nicht in Ordnung oder zumindest weniger fortgeschritten, wenn diese Sicherheit fehle.

Ein abschließender Gedanke: Es scheint, dass selbst die Auferstandenen bei der Wiederkunft einschließlich der lebendig verwandelten 144 000 ein Problem mit der heute verbreiteten „Heilsgewissheit“ haben – oder wie sonst sollen wir uns das bange Schweigen aller nach dem Ausruf erklären: „Wer wird bestehen? Ist mein Kleid fleckenlos?“

EW 15f. [Jesu] Augen glichen einer Feuerflamme, sein prüfender Blick las alles in seinen Kindern. Da wurden alle Gesichter blass, und die Gesichter der von Gott Verworfenen wurden finster. „Wer wird bestehen?“, riefen wir alle aus. „Ist mein Kleid fleckenlos?“ Die Engel hörten auf zu singen, und eine furchtbare Stille trat ein. Dann sagte Jesus: „Wer saubere Hände und ein reines Herz hat, wird bestehen. Meine Gnade ist für euch ausreichend.“ Da hellten sich unsere Gesichter auf, und Freude erfüllte jedes Herz. (vgl. EG 13)

79. Die Bibel spricht nicht von „Heilsgewissheit“, sondern von Hoffnung, „denn auf Hoffnung hin sind wir errettet worden.“ (Röm 8,24)

Es ist an sich nicht falsch, zur Beschreibung unseres Glaubens auch Begriffe zu verwenden, die in der Bibel nicht vorkommen. Es vergrößert aber die Gefahr, dass subjektive, willkürliche Elemente mit in die Definition einfließen. Und bei „Heilsgewissheit“ ist das ohne Zweifel geschehen.

Betrachten wir den biblischen Befund. In der Lutherübersetzung (1984) finden sich im Neuen Testament nur zwei Texte mit dem Wort „Gewissheit“:

  • Kolosser 2,2: „Gewissheit und Verständnis“ (andere übersetzen „Gewissheit im Verständnis“).
  • 1. Thessalonicher 1,5: „Predigt des Evangeliums … in großer Gewissheit“.

In der Elberfelder finden sich einige weitere Texte:

  • Römer 4,21: Abrahams „Gewissheit“, das Gott seine Verheißungen erfüllen würde.
  • Hebräer 6,11: Wir sollen um die „volle Gewissheit der Hoffnung“ eifern.
  • Hebräer 10,22: Wir dürfen in „voller Gewissheit des Glaubens“ ins himmlische Heiligtum eintreten.

Keine dieser Stellen hat mit „Gewissheit des Heils“ im üblichen Sinne zu tun. Am ehesten würde wohl noch „Gewissheit der Hoffnung“ passen, doch spricht gerade dieser Text nicht von etwas, das bereits vollendete Tatsache wäre, sondern um das wir „eifern“ sollen. Was uns zum Begriff der Hoffnung führt. Paulus schreibt an die Römer:

Röm 8,24 Denn auf Hoffnung hin sind wir errettet worden. Eine Hoffnung aber, die gesehen wird, ist keine Hoffnung. Denn wer hofft, was er sieht?

25 Wenn wir aber das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir mit Ausharren.

Es würde zu weit führen, den Zusammenhang von Römer 8 im Einzelnen darzustellen, aber im Grunde macht Paulus in diesem Kapitel an verschiedenen Stellen klar, dass unsere Erlösung erst vollendet sein wird, wenn wir die Unsterblichkeit empfangen. Er nennt das „die Sohnschaft: die Erlösung unseres Leibes“ (V. 23). Die Anzahlung, die unsere Berechtigung zu ewigem Leben anzeigt, ist „die Erstlingsgabe des Geistes“ (23), und derselbe Geist macht am Ende die Toten lebendig und schenkt ewiges Leben (11). Der Geist ist es auch, der uns „von dem Gesetz der Sünde freigemacht hat“ (2), eine neue „Gesinnung“ schenkt (6), sodass wir „nach dem Geist wandeln“ und das Gesetz erfüllen (4). Wenn wir „ausharren“ bis zur Erfüllung von Gottes Verheißung (25) und dabei auch bereit sind, für Christus zu leiden (17), werden wir die ewige Herrlichkeit erlangen (17). Anschließend führt Paulus auf sehr ermutigende Weise aus, dass auf diesem Weg in die Ewigkeit uns alle Dinge zum Guten dienen müssen und Gott für alle unsere Bedürfnisse und notwendigen Schritte liebevoll und überreichlich vorgesorgt hat (siehe auch den Abschnitt über Röm 8,29ff. in These 68).

„Hoffnung“, wie die Bibel diesen Begriff gebraucht, beschreibt gut unsere Situation als „Pilger“ zur himmlischen Heimat, die wir zwar die Verheißung des ewigen Lebens (= des Heils) haben, aber noch nicht die Erfüllung. Wir müssen anerkennen: Solange wir auf dieser Erde leben, unsere alte Natur noch besitzen und Satan aktiv ist, besteht die Möglichkeit, zu fallen und sogar abzufallen. Sicherheit finden wir nicht in uns, sondern allein im konsequenten Abwenden vom eigenen Ich und im Ausstrecken zu Christus hin, der all das für uns und in uns ist und sein wird, was zu unserem persönlichen Heil notwendig ist. Können wir dabei die „Gewissheit“ haben, am Ziel anzukommen? Ja, wenn wir das Wesen dieser Gewissheit richtig, d. h. biblisch definieren.

Wir haben ein ganz anschauliches biblisches Beispiel dafür, welche Art Gewissheit wir als Pilger zum Himmel haben dürfen, und das ist Israels Wüstenwanderung. Ihre Reise hatte die in These 76 erwähnten drei Stationen: Anfang – Prozess – Ende (Ziel). Der Anfang war ihre Befreiung aus Ägypten – das ist ein Bild für unsere Bekehrung. Dann folgte ein längerer, wortwörtlich „schrittweiser“ Prozess, nämlich ihre Wanderung durch die Wüste – ein Bild für unser Leben in der Nachfolge und unsere Heiligung. Das Ziel war schließlich das Land Kanaan, die neue Heimat – ein Bild für den Himmel und die Neue Erde.

Jetzt die Gretchenfrage: Hatten die Israeliten „Heilsgewissheit“? Nach heutigem Verständnis müsste man mit Ja antworten, denn die „Heilsgewissheit“ beginnt angeblich mit der Bekehrung. Von dem Tag also, als das Volk Ägypten verlassen hatte, besaß es „Heilsgewissheit“. Nun berichtet die Bibel aber die höchst verstörende Tatsache, dass von den 600 000 Mann, die Ägypten verlassen hatten (2Mo 12,37), ein schier unglaublich winziger Anteil von gerade einmal zwei Männern – Josua und Kaleb – das Ziel der Reise, Kanaan, wirklich erreichte! Paulus drückt es sehr, sehr milde aus, wenn er sagt:

1Kor 10,5 An den meisten von ihnen aber hatte Gott kein Wohlgefallen, denn sie sind in der Wüste hingestreckt worden.

Anschließend betont er noch, dass diese Dinge für uns aufgeschrieben worden sind, damit wir nicht ihre Fehler wiederholen und dasselbe Schicksal erleiden:

1Kor 10,11 Alles dies aber widerfuhr jenen als Vorbild und ist geschrieben worden zur Ermahnung für uns, über die das Ende der Zeitalter gekommen ist.

Das griechische Wort für „Vorbild“ ist typos, von dem das deutsche Wort „Typologie“ stammt. Es bedeutet, dass eine prinzipielle Vergleichbarkeit zwischen Israels Situation und unserer heutigen besteht. Das macht diese Geschichte für uns sehr bedeutsam, und deswegen ist sie in der Schrift auch so ausführlich berichtet – für uns, das geistliche Israel am „Ende der Zeitalter“. Paulus’ Fazit und Appell im nächsten Vers lautet:

1Kor 10,12 Daher, wer zu stehen meint, sehe zu, dass er nicht falle.

Und wenn ich mich nicht völlig täusche, dann hat „Ich meine zu stehen“ durchaus etwas mit dem heute verbreiteten „Ich habe Heilgewissheit“ zu tun. Wir können noch fallen, und wir haben etwas zu tun, um das zu verhindern, nämlich „zusehen, dass wir nicht fallen“. Und damit wird meine „Heilsgewissheit“ zu etwas, das auch von mir persönlich abhängt und somit niemals absolute Gewissheit sein kann (und auch niemals so gedacht war).

Trotzdem ist unsere Aufgabe als Wanderer durch die Wüste keinesfalls, uns auf uns selbst zu konzentrieren und in uns selbst Stärke zusammenzuklauben, sondern gerade das Gegenteil: von uns selbst weg auf den göttlichen Führer zu sehen, der in der Wolken- und Feuersäule vor uns herzieht! Der persönliche Faktor ist da, doch besteht er paradoxerweise darin, dass ich „abnehme“ und Er „wächst“ (Joh 3,30), dass ich „sterbe“ und Er in mir „lebt“ (Gal 2,19f.), dass ich „schwach“ bin und Er in mir „stark“ (2Kor 12,10)! Aus diesem Grund lenkt Paulus gleich im nächsten Vers unsere Aufmerksamkeit auf Gott und Seine Treue während unserer Pilgerreise:

1Kor 10,13 Keine Versuchung hat euch ergriffen als nur eine menschliche; Gott aber ist treu, der nicht zulassen wird, dass ihr über euer Vermögen versucht werdet, sondern mit der Versuchung auch den Ausgang schaffen wird, sodass ihr sie ertragen könnt.

Gott weiß, dass wir gefallene Menschen sind; daher sind es allein „menschliche“ Versuchungen oder Prüfungen, die Er auf unserer Wanderschaft ins himmlische Kanaan zulässt. Und mit jeder Prüfung versorgt Er uns auch mit der nötigen Widerstandskraft, um an Gott und am Glauben festzuhalten. Und das ist übrigens eine absolute Gewissheit!

Wer wird also einmal die himmlische Heimat erreichen? Paulus gibt eine eindeutige Antwort im Hebräerbrief, wo er ebenso Israels Wüstenwanderung als Lehrbeispiel heranzieht und das „Eingehen in die Ruhe“ Kanaans als ein Bild für unsere Erlösung gebraucht. Er sagt:

Heb 4,3 Wir gehen nämlich in die Ruhe ein als die, die geglaubt haben

Dann ergänzt er, damit kein Missverständnis entsteht, dass er von einem Glauben spricht, der „eifrig“ ist und zum „Gehorsam“ führt:

Heb 4,11 Lasst uns nun eifrig sein, in jene Ruhe einzugehen, damit nicht jemand nach demselben Beispiel des Ungehorsams falle!

Und wie schon im ersten Korintherbrief baut er gleich unserer menschlichen Neigung vor, bei Ermahnungen auf uns selbst zu schauen, indem er auf Christus als mitfühlenden Fürsprecher und allmächtigen Erlöser hinweist:

Heb 4,15 Wir haben nicht einen Hohepriester, der nicht Mitleid haben könnte mit unseren Schwachheiten, sondern der in allem in gleicher Weise wie wir versucht worden ist, doch ohne Sünde.

16 Lasst uns nun mit Freimütigkeit hinzutreten zum Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zur rechtzeitigen Hilfe!

Auch diese versprochene Gnade und rechtzeitige Hilfe in jeder Anfechtung dürfen wir aufgrund der Verdienste Jesu mit absoluter Gewissheit in Anspruch nehmen.

Folgen wir doch diesem wunderbaren, göttlichen Führer, egal was uns in der Wüste dieser Welt begegnet! Wenn unsere Augen auf Ihn gerichtet bleiben und wir – ob wir Freiheit von Schuld oder Freiheit von Sünde suchen – uns stets zu Ihm flüchten und auf Sein erlösendes Blut berufen, dann werden wir das gelobte Land erreichen, denn unser Herr führt immer zu Ende, was Er begonnen hat! In Ihm – in Seiner Liebe und Treue – liegt unsere ganze Gewissheit.

74. Der Einzug der Adventgemeinde ins himmlische Kanaan wird bis heute verhindert, weil die Gemeinden eher auf die Vielen hören, die unermüdlich gegen Charaktervollkommenheit predigen, und die Wenigen, die auf Gottes erlösende Macht hinweisen, als Extremisten bekämpfen.

1883 schrieb Ellen White:

Ev 696 Vierzig Jahre lang schlossen Unglaube, Murren und Auflehnung das alte Israel vom Land Kanaan aus. Dieselben Sünden haben den Eintritt des heutigen Israel in das himmlische Kanaan verzögert.

Als Gott fünf Jahre darauf Jones und Waggoner als Seine Boten beauftragte, der versammelten Generalkonferenz in Minneapolis eine wunderbare Botschaft von Christus als liebendem, mächtigem Erlöser vorzutragen, die endlich den Weg nach Kanaan freimachen sollte, stieß diese Verkündigung auf großen Widerstand (siehe These 44 und folgende). Rund 40 Jahre nach dieser Konferenz zog Taylor Bunch, Prediger und Autor, einen typologischen Vergleich zwischen Israels Wüstenwanderung und der ausbleibenden Wiederkunft Jesu seit 1888, und auch dies führte zu Unverständnis und dem Erscheinen diverser Rechtfertigungsliteratur vonseiten anderer Adventisten. Eigenartig, wo doch Ellen White prinzipiell das Gleiche bereits 1883 zum Ausdruck gebracht hatte.

Was denn sonst sollte die Wiederkunft verzögern als „menschliches Versagen“ auf unserer Seite? Für mich ist schwer verständlich, warum wir uns gegen diese Einsicht so wehren. Wer sich mit unserer Geschichte ehrlich beschäftigt, kann meines Erachtens nur zum selben Schluss kommen. Und dahinter steht nicht etwa ein Bedürfnis, die eigene Gemeinde „schlecht zu machen“. Vielmehr ist es unverzichtbar zu erkennen, an welcher Weggabelung wir bzw. unsere Vorväter falsch abgebogen sind, wenn wir unseren Weg korrigieren und am Ende doch noch unser herrliches Ziel erreichen wollen. Deswegen sollten wir Gott dankbar sein, wenn Er uns auf Probleme und Fehler hinweist! Sind sie doch ein Schlüssel für eine hellere Zukunft als Gemeinde und letztlich für den Abschluss der weltweiten Mission, die Christus uns anvertraut hat.

Warum sind wir noch nicht im himmlischen Kanaan? Man kann viel darüber sinnieren, dass das Evangelium noch nicht alle Länder, Sprachen und Völker erreicht hat, dass bestimmte prophetische Entwicklungen noch ausstehen, dass wir noch auf den Spätregen warten etc. Aber all das wird uns nicht entscheidend voranbringen, solange wir den eigentlichen Kern des Evangeliums und des priesterlichen Dienstes im Allerheiligsten – die charakterliche Vervollkommnung der Gläubigen – als fanatischen Irrweg ablehnen.

Mit dieser Haltung beweisen wir eine traurige Unkenntnis des Wesens Gottes – der wunderschönen Harmonie zwischen Seiner Liebe und Seiner Gerechtigkeit. Würde Gott weniger als Vollkommenheit von uns erwarten, wäre Er nicht gerecht, aber würde Er uns weniger als Vollkommenheit schenken, wäre Er nicht Liebe. Doch Er ist beides! Am Kreuz haben sich „Gerechtigkeit und Frieden geküsst“ (Ps 85,11). Das Blut Jesu ist der unübertreffbare Beweis für Gottes Liebe und Gottes Gerechtigkeit – nicht als Gegensätze oder Konkurrenz, sondern als perfekte, göttliche Ganzheit, als das unauslotbare Wunder des göttlichen Wesens. Ohne diese Gotteserkenntnis, die uns „in dasselbe Bild verwandelt von Herrlichkeit zu Herrlichkeit“ (2Kor 3,18), sind wir nicht bereit, Christus „in seiner Herrlichkeit“ (Mt 25,31) zu begegnen.

Israels Prüfung und Versagen bei Kadesch-Barnea, nachdem die zwölf Kundschafter zurückgekehrt waren, hat uns viel zu sagen – mehr, als uns lieb sein kann. Im Eifer des Gefechts kann es ausgesprochen schwer sein, Freund und Feind auseinanderzuhalten. Angst und Verzweiflung machten das Volk blind, sodass sie der plausibel klingenden Lüge der zehn glaubten und die rettende Wahrheit in Form der übrigen zwei Kundschafter „steinigen“ wollten. Ist so etwas auch unter Gottes Volk heute denkbar? Möge der Herr uns Augensalbe schenken.

60. Die Lehre der Charaktervervollkommnung ist nicht extrem, sondern die konsequente Weiterführung der reformatorischen Glaubensgerechtigkeit und unsere einzige Hoffnung auf ewiges Leben. Sie „gibt Gott die Ehre“ (Off 14,7) als Neuschöpfer und mächtigem Erlöser. Sie ist der einzige biblische und logische Weg zur endgültigen Beseitigung der Sünde und die großartigste Verheißung, die Gott Menschen je gemacht hat.

Vollkommenheit ist Heiligkeit, Reinheit, Wahrhaftigkeit, Liebe, Gerechtigkeit, Makellosigkeit, Untadeligkeit, Schönheit, Vollendung. Vollkommenheit vereint alles nur denkbar Positive in sich. Sie ist eine tiefgreifende Beschreibung des Wesens Gottes und in ihrer ultimativen Bedeutung Göttlichkeit par excellence. Wenn Vollkommenheit extrem ist, ist Gott extrem. Aber weil das natürlich nicht der Fall und Gott tatsächlich absolut und ohne jede Einschränkung gut ist, ist Vollkommenheit absolut und ohne jede Einschränkung gut.

Warum hat Vollkommenheit dann einen so schlechten Ruf in unseren Reihen? Warum schmeckt sie so anrüchig nach Fanatismus? Wieso schätzen, ehren und erstreben wir sie so wenig als eine unvergleichliche, erstaunliche und kostbarste Gabe Gottes? Weshalb lieben und ersehnen wir sie nicht als Ausdruck alles dessen, was unseren Vater im Himmel ausmacht und im Leben von Jesus Christus offenbar geworden ist? Wer oder was hat die Bedeutung dieses, ich möchte sagen, „heiligen“ Begriffes so getrübt und verdreht?

Christliche Vollkommenheit ist die Frucht wahrer Rechtfertigung. Ein Glaube, der uns in lebendige Gemeinschaft mit Christus bringt, führt immer zur inneren Vervollkommnung. Vollkommenheit ist die Verwirklichung und der Beweis echter Glaubensgerechtigkeit. Der Glaube ist das Alpha, Vollkommenheit das Omega und Christus, „das Alpha und das Omega“ in Person, ist auch das gesamte Alphabet, das diese beiden griechischen Buchstaben miteinander verbindet.

Ein geschätzter Prediger und Bibellehrer hielt einmal einen Vortrag über Rechtfertigung, bei dem ich anwesend war. Er stellte Heiligung als eine Kurve der Sittlichkeit dar, die ab der Bekehrung einen Aufwärtstrend mit Höhen und Tiefen erfuhr und dort, wo das Lebensende markiert war, bei etwa „70 % Heiligkeit“ auslief. In einem anschließenden Briefwechsel fragte ich ihn, was denn mit den fehlenden 30 % geschehe, da doch laut Bibel und Geist der Weissagung über den Tod hinaus keine Heiligung mehr stattfinde. Abgesehen davon, dass mir meine Argumentation das Prädikat eines „klassischen Perfektionisten“ einheimste, lautete seine Antwort: „Wir werden nicht aufgrund unserer Heiligung gerettet, sondern aufgrund des Todes Christi.“

Das ist eine leider häufig auftretende Du-fragst-nach-einem-Apfel-Hier-hast-du-eine-Birne-Antwort. Meine Nachfrage bezog sich nicht auf das Fundament, sondern auf das Gebäude, das darauf entsteht, und was denn passiert, wenn der Dachstuhl zwar steht, aber nie mit Ziegeln gedeckt wird. Ein Hinweis auf die tadellose Qualität des Fundamentes ist wenig hilfreich, wenn der Regen einsetzt.

Auf die Erlösung bezogen: Der Tod Christi ist in der Tat die Grundlage unserer Rettung, aber die Rettung selbst besteht in Vergebung und einem neuen Herzen – als Frucht und praktische Auswirkung von Christi Kreuzestod. Heiligung ist konkret gewordene Rettung, und deswegen lautete obige Antwort eigentlich: „Wir werden nicht aufgrund unserer Rettung gerettet, sondern aufgrund des Todes Christi.“ Nun steht es mir fern, diesem Bruder Böses zu unterstellen; doch tatsächlich gebrauchte er Golgatha als Begründung dafür, warum wir keine Rettung (in Gestalt völliger Heiligung) bräuchten.

Es stimmt: Wir werden nicht aufgrund unserer Heiligung gerettet – Heiligung ist die Rettung! Wir werden auch nicht aufgrund unserer Vollkommenheit erlöst – Vollkommenheit ist die Erlösung! Es geht hier schlicht um Ursache (Rechtfertigung) und Wirkung (Vervollkommnung), und ich kann eine mangelhafte Wirkung nicht damit beiseiteschieben, dass ich auf die wichtige Rolle der Ursache verweise.

Darum: Vollständige Heiligung ist der Zwillingsbruder von und die logische Konsequenz aus vollständiger Rechtfertigung, wie die Reformation sie entdeckt und verkündet hat. Und würde Gott uns Hoffnung auf ewiges Leben machen auch ohne sittliche Vollkommenheit, müsste er ein Plätzchen für Unvollkommenheit genannt „Sünde“ lassen und würde sie zwangsläufig mit verewigen.

„Aber so kleinlich wird Gott doch nicht sein …“ Kleinlich? Wenn das kleinlich ist, dann war es auch kleinlich, Adam und Eva wegen eines Apfels aus dem Paradies zu vertreiben und zum Tode zu verurteilen. Sind 6 000 Jahre auf einer Welt der Sünde immer noch nicht genug, um in furchtbarer Anschaulichkeit das Gegenteil zu beweisen? Eine „kleine Sünde“ war der Auslöser für das ganze grenzenlose Elend und Desaster auf diesem Planeten, ja für den unvorstellbar grausamen Tod des Sohnes Gottes – und wir wollen eine „kleine Sünde“ wieder in den Himmel importieren? Das Universum wird vor den katastrophalen Früchten der Rebellion erst sicher sein, wenn auch alle ihre Samenkörner – die kleinen Sünden, mit denen sie anfängt – vernichtet sind.

4T 578 Ein Schritt in die falsche Richtung ebnet den Weg für den nächsten. Ein einziges Glas Wein kann der Versuchung die Tür öffnen und einen Gewohnheitstrinker hervorbringen. Einen einzigen Moment Rachegefühlen nachzugeben, kann eine Kette von Emotionen in Gang setzen, die im Mord endet. Die kleinste Abweichung von Recht und Ordnung wird zur Trennung von Gott führen und kann im Glaubensabfall enden.

Mir ist bewusst, dass viele keinen Zweifel daran haben, dass die Neue Erde ein vollkommener Ort sein wird, nur finden sie viele Gründe, warum das angeblich auch ohne völlige Heiligung in diesem Leben funktioniert. Sie sagen, im Himmel werden wir nicht mehr sündigen, weil

  • wir vorher versiegelt worden sind,
  • wir durch die Verwandlung bei der Wiederkunft keine gefallene Natur mehr haben,
  • der Teufel nicht mehr da ist, um uns zu versuchen,
  • wir in dieser wunderbaren Umgebung gar nicht auf böse Gedanken kommen
  • usw.

Alle diese Begründungen verschieben die Ursache oder zumindest Verantwortung für meinen Ungehorsam nach außen: Ich sündige, weil Gott mich noch nicht versiegelt hat, weil ich meiner Natur nicht widerstehen kann, weil der Teufel mich anstachelt oder weil ich so wenig gute Vorbilder habe … Wenn wir solche Gedanken hegen, brauchen wir uns nicht zu wundern, dass wir nicht überwinden – wir verteidigen unsere Schwächen ja und verhindern damit, dass der Heilige Geist uns Reue und Vergebung schenkt, was wiederum die Grundvoraussetzung für ein geisterfülltes Leben als Überwinder ist.

Es gibt aber einen anderen, entscheidenden Grund, warum alle diese Überlegungen nichtig sind: Christus. Er war nicht versiegelt, Er hatte unsere gefallene Natur, der Teufel versuchte Ihn weit heftiger als jeden anderen Sterblichen, und Er war in derselben trostlosen Umgebung voller schlechter Vorbilder wie auch wir. Und dennoch war Sein Leben von makelloser Reinheit. Er ist unser Beispiel. Sein Weg führt zu vollkommener Gerechtigkeit. Christus in uns ist die „Hoffnung der Herrlichkeit“ (Kol 1,27; siehe auch These 62).

Zum Punkt, dass vollkommene Gerechtigkeit „unsere einzige Hoffnung auf ewiges Leben“ ist, sei kurz daran erinnert, was der Geist der Weissagung über Einwände gegen „Vollkommenheit“ und „Tadellosigkeit in Liebe und Heiligkeit“ zu sagen hat (siehe vorige These):

BE, 15.1.1892 Jemand mag sagen: „Diesem Anspruch kann ich unmöglich gerecht werden.“ Aber genau das musst du, sonst wirst du den Himmel niemals betreten.

Zum Punkt, dass Gott dadurch geehrt wird, dass er Menschen charakterlich vervollkommnet, noch einmal ein Zitat aus These 38:

DA 671 Die Vervollkommnung des Charakters seines Volkes ist eine Ehrensache für Gott, eine Ehrensache für Christus. (vgl. LJ 670)

Ja, wahrhaftig: Unsere Vervollkommnung ist „die großartigste Verheißung, die Gott Menschen je gemacht hat“ – so tief und groß und weit, dass sie uns fast überwältigt und wir unseren Kleinmut spüren, sie zuversichtlich und dankbar in Anspruch zu nehmen! Aber gehen wir doch wie einst die Jünger zum Herrn und bitten Ihn: „Mehre uns den Glauben!“ (Lk 17,5)

27. So entstand in der evangelischen Christenheit ein einseitiges Erlösungsverständnis, das Rechtfertigung als Erlösung an sich verstand statt als einen Teil der Erlösung.

Luther stand mit beiden Beinen auf dem Boden. Er hatte einen sehr praktischen Begriff von Glauben und hat die wichtige Bedeutung von Nachfolge und Gehorsam im Leben des Christen durchaus erkannt und verkündigt. Auch hat sich sein theologisches Verständnis der Erlösung im Laufe seines Lebens gewandelt, indem er sich von einer rein forensischen Rechtfertigung („Gerechtsprechung“) näher zu einer effektiven Rechtfertigung („Gerechtmachung“ = Heiligung) hinbewegte. Sein jahrelanges Ringen um die rechte Einordnung des Jakobus-Briefes und letztlich „Versöhnung“ mit diesem Teil des Neuen Testamentes sind Ausdruck dieser Entwicklung.

Nach Luthers Tod gab es nicht wenig Streit um die wahre „evangelische Lehre“, und durchgesetzt hat sich die Strömung der „Gnesio-Lutheraner“, die sein Schrifttum selektiv und einseitig im Sinne einer streng forensischen Rechtfertigung gebrauchten. Dieses Erbe zeigt sich heute in weiten Teilen der evangelischen Christenheit und ist ein wesentlicher Grund für die vorherrschende Abneigung gegen das Gesetz Gottes und den Glaubensgehorsam.

Wenn man tiefer darüber nachdenkt, ist es eigentlich erstaunlich und traurig, dass so viele aufrichtige und gutmeinende Christen fest davon überzeugt sind, die Misere des gefallenen Menschen ließe sich allein durch „virtuelle Gerechtigkeit“ lösen, allein durch eine Art himmlische Kontobewegung zugunsten der Schuldigen, allein durch ein göttliches „Übersehen“ unserer Sündigkeit, weil sie durch Jesu Blut bedeckt sei. In diesem Sinne werden die Soli der Reformation ja gerne gebraucht – als könnten wir durch etwas erlöst werden, das rein außerhalb von uns stattfindet, wo doch die Sünde unser Inneres wie ein böser Krebs komplett befallen hat!

Ich sage dies in keiner Weise, um den Gedanken der Stellvertretung Jesu als unser Sühneopfer irgendwie anzuzweifeln oder zu schmälern – er ist eine der zwei Säulen der Erlösung –, sondern um die äußerste Sinnlosigkeit aufzuzeigen, würde es allein dabei bleiben! Was könnte der Vorstellung einer „externen Erlösung“ radikaler widersprechen als das Bild, das Jesus im nächtlichen Gespräch mit Nikodemus gebrauchte:

Joh 3,3 Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen.

„In Christus“ zu sein ist weit mehr, als seine Stellvertretung in Anspruch zu nehmen:

2Kor 5,17 Darum: Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen; siehe, es ist alles neu geworden!

Schon der alttestamentliche Heiligtumsdienst zeigte, dass es nicht ausreichend war, das Opfertier zu schlachten – das Blut musste auch zur Anwendung kommen, indem es vom Priester in das Heiligtum getragen und mit verschiedenen Gegenständen in Berührung kam. Dieser Dienst der Versöhnung geschieht seit Pfingsten im Himmel durch Christus und auf der Erde durch den Heiligen Geist. Über die Notwendigkeit dieses über Golgatha hinausreichenden Erlösungswerkes lesen wir im Leben Jesu:

LJ 670 [Der Heilige Geist] sollte uns als eine erneuernde Kraft erfüllen, ohne die das Opfer Christi wertlos gewesen wäre

Beachten wir, wie der Heilige Geist, der die Worte jenes Buches inspiriert hat, anschließend seine eigene Aufgabe erklärt:

LJ 670 Nur durch die machtvolle Kraft der dritten Person der Gottheit konnte der Sünde widerstanden und sie überwunden werden … [Der Geist] reinigt das Herz, und durch ihn wird der Gläubige Teilhaber der göttlichen Natur. Christus hat seinen Geist als eine göttliche Kraft gegeben, um alle ererbten und anerzogenen Neigungen zum Bösen zu überwinden und seiner Gemeinde sein Wesen aufzuprägen.

Böse Neigungen zu überwinden und Jesu Wesen zu erhalten, gehen nach dem letzten Satz Hand in Hand. Durch die Gemeinschaft mit Jesus, die der Heilige Geist herstellt, werden wir befähigt, den Hang zur Sünde zu überwinden. Und durch das Überwinden von Sünde vertieft sich die Gemeinschaft mit Jesus, weil im Herzen mehr Raum für Ihn entsteht. Und je mehr Er uns ausfüllt, desto mehr wird Sein Bild in uns wiederhergestellt – bis wir durch Jesu Gnade und priesterlichen Mittlerdienst als vollständige Sieger dastehen.

23. Die erste grundlegende Einsicht auf dem Weg zum Heil ist die der eigenen Verlorenheit. Sie wird offenkundig in der totalen Unmöglichkeit für den natürlichen Menschen, Gottes heiliges Gesetz zu halten (Röm 8,7).

Röm 8,7 Die Gesinnung des Fleisches ist Feindschaft gegen Gott, denn sie ist dem Gesetz Gottes nicht untertan, denn sie kann das auch nicht.

Paulus beschreibt die Erfahrung seiner persönlichen Bekehrung so:

Röm 7,9 Ich aber lebte einst ohne Gesetz; als aber das Gebot kam, lebte die Sünde auf;

10 ich aber starb …

21 Ich finde also das Gesetz, dass bei mir, der ich das Gute tun will, nur das Böse vorhanden ist … 24 Ich elender Mensch! Wer wird mich retten von diesem Leibe des Todes?

Gal 3,24 Also ist das Gesetz unser Zuchtmeister auf Christus hin geworden, damit wir aus Glauben gerechtfertigt würden.

Im Spiegel des göttlichen Gesetzes, erleuchtet vom Heiligen Geist, erkannte der Apostel seinen wahren, todgeweihten Zustand und rief nach einem Erlöser.

Ein mit sich zufriedener, selbstgerechter Mensch hat weder das Bedürfnis nach Erlösung noch Wertschätzung dafür, was Christus ihm sein möchte. Der Einzige, der uns in dieser Situation zu Einsicht und Buße führen kann, ist Gott selbst. An uns liegt es dann, auf Sein Wirken zu reagieren:

1SM 390 Muss der Sünder warten, bis er Gewissensbisse wegen seiner Sünden spürt, bevor er zu Christus kommen kann? Der allererste Schritt auf Christus kommt durch das Ziehen des Geistes Gottes zustande. Antwortet der Mensch auf dieses Ziehen, nähert er sich Christus, um zur Reue zu finden. (vgl. 1FG 411)

3. Christus kann nicht wiederkommen, solange sein Erlösungswerk im Himmel und auf der Erde nicht abgeschlossen ist.

Das Erlösungswerk im Himmel ist die am 22. Oktober 1844 begonnene Reinigung des Heiligtums von den Sünden der Gläubigen, wie sie im alttestamentlichen Versöhnungstag vorgeschattet war. Der Abschluss dieser Reinigung ist zugleich das Ende von Jesu Mittlerdienst und der Gnadenzeit für die Menschheit. Weil Vergebung dann nicht mehr möglich ist, sorgt Gott vorher dafür, dass sie auch nicht mehr nötig ist: Er reinigt das Herz der Gläubigen so vollständig von Sünde, dass sie lieber sterben würden, als Gottes Gesetz zu übertreten. Dies ist nichts anderes als die Erfüllung des Neuen Bundes:

Hes 36,25 Und ich werde reines Wasser auf euch sprengen, und ihr werdet rein sein; von all euren Unreinheiten und von all euren Götzen werde ich euch reinigen …

27 … und ich werde machen, dass ihr in meinen Ordnungen lebt und meine Rechtsbestimmungen bewahrt und tut.

Die Reinigung des himmlischen Heiligtums kann erst dann abgeschlossen werden, wenn die Ursache für seine Verunreinigung – die Sünden der Gläubigen – beseitigt worden ist. W. D. Frazee drückte es einmal so aus: Die Wäscherei kann erst schließen, wenn wir gelernt haben, unsere Kleider reinzuhalten. Wie wird Gott das erreichen?

Maleachi schreibt über eine Zeit, wo „der Herr plötzlich [= unerwartet] zu seinem Tempel kommt“ (Mal 3,1). Dies erfüllte sich in der Enttäuschung von 1844, als Christus unerwartet das Allerheiligste betrat, statt auf die Erde zu kommen. Seine Aufgabe in dieser abschließenden Phase des Heiligtumsdienstes seit 1844 betrifft auch die Gemeinde auf der Erde (die „Söhne Levi“):

Mal 3,3 Und er wird sitzen und das Silber schmelzen und reinigen, und er wird die Söhne Levi reinigen und sie läutern wie Gold und wie Silber, sodass sie Männer werden, die dem HERRN Opfergaben in Gerechtigkeit darbringen.

Wie schon in Hesekiel 36 führt die hier geschilderte Reinigung zur „Gerechtigkeit“, also zum Gehorsam gegen Gottes Gebote. Ellen White beschreibt den gleichen Zusammenhang im Großen Kampf. Sie zitiert zuerst denselben Vers (Mal 3,3) und schreibt dann über die Gläubigen in der Endzeit:

GK 427 Während das Untersuchungsgericht im Himmel vor sich geht, während die Sünden reumütiger Gläubiger aus dem Heiligtum entfernt werden, muss sich das Volk Gottes auf Erden in besonderer Weise läutern, d. h. seine Sünden ablegen … Dann wird die Gemeinde, die der Herr bei seinem Kommen zu sich nehmen wird, herrlich sein, eine Gemeinde, „die nicht habe einen Flecken oder Runzel oder des etwas“ (Eph 5,27).

Das Erlösungswerk im Himmel und auf der Erde geht also Hand in Hand. Erst wenn Gottes Gemeinde auf der Erde vollständig gereinigt ist – ohne „einen Flecken oder Runzel“ auf dem Kleid ihres Charakters –, wird Jesus seinen Dienst im Himmel beenden. Und dann erst kann er wiederkommen.

Ich möchte hinzufügen, dass es niemals die ganze Gemeinde sein wird, die am Ende vollständig gereinigt und dann versiegelt wird, ebenso wie auch im Alten Israel „nur ein Überrest“ gerettet wurde (Röm 9,27). Die Bibel lehrt klar, dass in der Gemeinde Unkraut und Weizen nebeneinander wachsen und es erst kurz vor der Wiederkunft zu einer Sichtung der Gläubigen kommen wird, wo zuerst das Unkraut zur Verbrennung zusammengelesen und dann der Weizen in Gottes Scheune gesammelt wird (Mt 13,30).

Dennoch sehnt sich Jesus danach, dass möglichst jeder Einzelne gerettet wird, und beweist daher außerordentliche Langmut im Warten auf Sein Adventvolk. Einen Eindruck vom Aufschub der letzten Entscheidung vermittelt das Kapitel „Die Versiegelung“ aus Erfahrungen und Gesichte:

EG 28f. (rev.) Ich sah vier Engel, die ein Werk auf der Erde zu tun hatten und im Begriff waren, es auszuführen. Jesus war mit priesterlichen Gewändern bekleidet. Er blickte in Mitleid auf die Übrigen, erhob dann seine Hand und rief mit einer Stimme tiefsten Erbarmens: „Mein Blut, Vater, mein Blut, mein Blut, mein Blut!“ Dann sah ich, wie von Gott, der auf dem großen, weißen Thron saß, ein helles Licht kam und über Jesus ausgegossen wurde. Hierauf sah ich einen Engel mit einem Auftrag von Jesus schnell zu den vier Engeln fliegen, die ein Werk auf der Erde zu tun hatten; er schwang etwas in seiner Hand auf und ab und rief mit lauter Stimme: „Halt! Halt! Halt! Halt! bis die Knechte Gottes versiegelt sind an ihren Stirnen.“

Ich fragte meinen begleitenden Engel nach der Bedeutung des Gehörten und was die vier Engel hätten tun wollen. Er sagte mir, dass Gott die Mächte zurückhalte und dass er den Engeln Befehle über Dinge auf der Erde gab; dass die vier Engel Macht hätten von Gott, die vier Winde der Erde zu halten, und dass sie diese hätten loslassen wollen. Aber während sie ihre Hände lösen und die Winde anfangen zu blasen wollten, blickte das gnädige Auge Jesu auf den Rest, der nicht versiegelt war, und er erhob seine Hände zu dem Vater und hielt ihm vor, dass er sein Blut für sie vergossen habe. Dann wurde ein anderer Engel beauftragt, schnell zu den vier Engeln zu fliegen und ihnen Halt zu gebieten, bis die Knechte Gottes an ihren Stirnen mit dem Siegel des lebendigen Gottes versiegelt wären.

Wie oft sich diese Szene im Himmel seit 1844 wohl schon wiederholt hat …? Und warum eigentlich werden die vier Engel losgeschickt, während einige der „Übrigen“ noch gar nicht versiegelt sind? Wenn die Versiegelung ganz unabhängig von unserem Glaubenswandel geschehen würde, ließe sich das nur mit fehlerhafter Koordination im Himmel erklären – was selbstverständlich ausgeschlossen ist. Dann aber kann die Aussendung der vier Engel, um die Winde loszulassen (und damit die Gnadenzeit zu beenden), nur bedeuten, dass alle Gläubigen bereits Gelegenheit gehabt haben, sich auf die Versiegelung vorzubereiten, aber nicht alle sie genutzt haben – und dann wäre Jesu Berufung auf Sein Blut nichts anderes als eine spontane, aus tiefstem Mitgefühl erwirkte Verlängerung der Gnadenzeit für uns als Gemeinde.

Ellen White hatte die oben beschriebene Vision im Jahr 1849. Unter These 2 hatten wir in Evangelisation, S. 695, gelesen, dass Christus eigentlich schon kurz nach 1844 wiederkommen wollte. Fast 25 Jahre später (1868) schrieb sie:

2T 194 Die lange Nacht der Finsternis ist nicht einfach, doch der Morgen wird aus Gnade aufgeschoben, weil so viele gar nicht bereit wären, sollte der Meister kommen. Der Grund für die lange Verzögerung ist, dass Gott nicht willens ist, sein Volk umkommen zu lassen.

Wenn rund 25 Jahre schon eine „lange Verzögerung“ waren, was sollen wir im Jahr 2019 sagen – 175 Jahre nach 1844, nachdem sich die „lange Verzögerung“ bereits sieben Mal wiederholt hat? Es ist wahrlich unglaublich, wie groß Gottes Mitleid mit Seiner wankelmütigen Gemeinde ist. Wer wollte es angesichts dieser Situation darauf anlegen, eine persönliche, „tiefe Buße“ weiter aufzuschieben oder es bei einer oberflächlichen Hinwendung zu Gott zu belassen?