74. Der Einzug der Adventgemeinde ins himmlische Kanaan wird bis heute verhindert, weil die Gemeinden eher auf die Vielen hören, die unermüdlich gegen Charaktervollkommenheit predigen, und die Wenigen, die auf Gottes erlösende Macht hinweisen, als Extremisten bekämpfen.

1883 schrieb Ellen White:

Ev 696 Vierzig Jahre lang schlossen Unglaube, Murren und Auflehnung das alte Israel vom Land Kanaan aus. Dieselben Sünden haben den Eintritt des heutigen Israel in das himmlische Kanaan verzögert.

Als Gott fünf Jahre darauf Jones und Waggoner als Seine Boten beauftragte, der versammelten Generalkonferenz in Minneapolis eine wunderbare Botschaft von Christus als liebendem, mächtigem Erlöser vorzutragen, die endlich den Weg nach Kanaan freimachen sollte, stieß diese Verkündigung auf großen Widerstand (siehe These 44 und folgende). Rund 40 Jahre nach dieser Konferenz zog Taylor Bunch, Prediger und Autor, einen typologischen Vergleich zwischen Israels Wüstenwanderung und der ausbleibenden Wiederkunft Jesu seit 1888, und auch dies führte zu Unverständnis und dem Erscheinen diverser Rechtfertigungsliteratur vonseiten anderer Adventisten. Eigenartig, wo doch Ellen White prinzipiell das Gleiche bereits 1883 zum Ausdruck gebracht hatte.

Was denn sonst sollte die Wiederkunft verzögern als „menschliches Versagen“ auf unserer Seite? Für mich ist schwer verständlich, warum wir uns gegen diese Einsicht so wehren. Wer sich mit unserer Geschichte ehrlich beschäftigt, kann meines Erachtens nur zum selben Schluss kommen. Und dahinter steht nicht etwa ein Bedürfnis, die eigene Gemeinde „schlecht zu machen“. Vielmehr ist es unverzichtbar zu erkennen, an welcher Weggabelung wir bzw. unsere Vorväter falsch abgebogen sind, wenn wir unseren Weg korrigieren und am Ende doch noch unser herrliches Ziel erreichen wollen. Deswegen sollten wir Gott dankbar sein, wenn Er uns auf Probleme und Fehler hinweist! Sind sie doch ein Schlüssel für eine hellere Zukunft als Gemeinde und letztlich für den Abschluss der weltweiten Mission, die Christus uns anvertraut hat.

Warum sind wir noch nicht im himmlischen Kanaan? Man kann viel darüber sinnieren, dass das Evangelium noch nicht alle Länder, Sprachen und Völker erreicht hat, dass bestimmte prophetische Entwicklungen noch ausstehen, dass wir noch auf den Spätregen warten etc. Aber all das wird uns nicht entscheidend voranbringen, solange wir den eigentlichen Kern des Evangeliums und des priesterlichen Dienstes im Allerheiligsten – die charakterliche Vervollkommnung der Gläubigen – als fanatischen Irrweg ablehnen.

Mit dieser Haltung beweisen wir eine traurige Unkenntnis des Wesens Gottes – der wunderschönen Harmonie zwischen Seiner Liebe und Seiner Gerechtigkeit. Würde Gott weniger als Vollkommenheit von uns erwarten, wäre Er nicht gerecht, aber würde Er uns weniger als Vollkommenheit schenken, wäre Er nicht Liebe. Doch Er ist beides! Am Kreuz haben sich „Gerechtigkeit und Frieden geküsst“ (Ps 85,11). Das Blut Jesu ist der unübertreffbare Beweis für Gottes Liebe und Gottes Gerechtigkeit – nicht als Gegensätze oder Konkurrenz, sondern als perfekte, göttliche Ganzheit, als das unauslotbare Wunder des göttlichen Wesens. Ohne diese Gotteserkenntnis, die uns „in dasselbe Bild verwandelt von Herrlichkeit zu Herrlichkeit“ (2Kor 3,18), sind wir nicht bereit, Christus „in seiner Herrlichkeit“ (Mt 25,31) zu begegnen.

Israels Prüfung und Versagen bei Kadesch-Barnea, nachdem die zwölf Kundschafter zurückgekehrt waren, hat uns viel zu sagen – mehr, als uns lieb sein kann. Im Eifer des Gefechts kann es ausgesprochen schwer sein, Freund und Feind auseinanderzuhalten. Angst und Verzweiflung machten das Volk blind, sodass sie der plausibel klingenden Lüge der zehn glaubten und die rettende Wahrheit in Form der übrigen zwei Kundschafter „steinigen“ wollten. Ist so etwas auch unter Gottes Volk heute denkbar? Möge der Herr uns Augensalbe schenken.

64. Statt des Gerichtes sollten Adventisten lieber den Unglauben fürchten, denn „wegen des Unglaubens“ konnte das alte Israel das verheißene Land nicht betreten (Heb 3,19).

Wenn ein Sünder von Gottes Gericht erfährt, fürchtet er sich. Das ist eine völlig normale und zu erwartende Reaktion für jemanden, der im Bewusstsein seiner Schuldigkeit damit konfrontiert wird, dass er Rechenschaft ablegen muss. Gottes Gesetz ist sogar dazu da, den verlorenen Menschen in genau diese Situation hineinzuführen und ihm seine unausweichliche Verlorenheit nachdrücklich vor Augen zu halten. Die Absicht dahinter erklärt der Apostel Paulus so: Die Erkenntnis, dass er unter Gottes gerechter Verdammung steht, soll den Menschen zu Christus treiben, der ihm als Einziger Erlösung von dem drohenden Schicksal bringen kann.

Röm 7,7 Was wollen wir nun sagen? Ist das Gesetz Sünde? Das sei ferne! Aber ich hätte die Sünde nicht erkannt, außer durch das Gesetz

Gal 3,19 Was soll nun das Gesetz? Es wurde der Übertretungen wegen hinzugefügt …

22 Die Schrift hat alles unter die Sünde eingeschlossen

24 Also ist das Gesetz unser Zuchtmeister auf Christus hin geworden, damit wir aus Glauben gerechtfertigt würden.

Gott hat in Seiner unendlichen Liebe einen Weg gefunden, uns im Gericht nicht verurteilen zu müssen, sondern mit Fug und Recht gänzlich freisprechen – „rechtfertigen“ – zu können, und es ist der „Glaube“, der die Füße des Menschen auf diesen Weg setzt. Christus selbst ist dieser Weg, weil jeder einzelne Schritt nur im Vertrauen auf Ihn und in enger Lebensgemeinschaft mit Ihm geschehen kann. So ist Gottes Sohn zum Brückenbauer und Wegbereiter zurück zum Vater geworden, und das Gericht hat für den Gläubigen allen Schrecken verloren. Ja, im festen Glauben an Jesu Gerechtigkeit „auf ihm“, die ihn unverklagbar macht, kann er sogar mit David den Wunsch aussprechen:

Ps 7,9 Richte mich, HERR, nach meiner Gerechtigkeit und nach meiner Lauterkeit, die auf mir ist.

Ps 54,1 Gott, durch deinen Namen rette mich, und schaffe mir Recht durch deine Macht!

Der Gläubige weiß, dass „der HERR, unsere Gerechtigkeit“ eine lebendige Wirklichkeit ist, dass Jesu Gerechtigkeit eine schöpferische Kraft ist, die ihm vollständig zugerechnet und verliehen wird, und dass der Freispruch im himmlischen Gericht jedem sicher ist, der ebendiese Verheißungen bis zum Ende standhaft festhält – in Vertrauen und williger Nachfolge.

Off 14,12 Hier ist das standhafte Ausharren der Heiligen, hier sind die, welche die Gebote Gottes und den Glauben an Jesus bewahren!

Unsere Rettung verwirklicht sich „aus Glauben“. Das alte Israel scheiterte nicht an der Supermacht Ägypten, den lebensfeindlichen Umständen der Wüste, den Riesen Kanaans oder den stark befestigten Städten. Es scheiterte an der einzigen Instanz, die Gottes Siegeszug mit seinem Volk tatsächlich verhindern konnte: an sich selbst. Es war die Entscheidung für den Zweifel und gegen das Vertrauen, die das Schicksal einer ganzen Generation besiegelte, „deren Leiber in der Wüste fielen“ (Heb 3,17). Sie wiederholten die Sünde des ersten Menschenpaares am Baum der Erkenntnis, mit nicht weniger fatalen Folgen.

1Kor 10,11 Alles dies aber widerfuhr jenen als Vorbild und ist geschrieben worden zur Ermahnung für uns, über die das Ende der Zeitalter gekommen ist.

Kein einziger Gläubiger, auch nicht der schwächste und zitterndste, wird scheitern, weil die Latte christlicher Vollkommenheit für ihn angeblich zu hoch liegt. Es gibt nur eine Möglichkeit, das himmlische Kanaan zu verpassen: durch Unglauben – durch Zweifel am Wort Gottes, die zu Ungehorsam führen. Es gibt da ein sehr wahres Wort: „Wenn ich auf mich schaue, wüsste ich nicht, wie ich gerettet werden könnte. Wenn ich auf Jesus schaue, wüsste ich nicht, wie ich verloren gehen könnte.

HP 186 Alles, was den Glauben und das Vertrauen in unseren Erlöser schwächt, müssen wir als wertlos ansehen

Wenn du in der Liebe Christi ruhst und dem Heiland und Lebensgeber vertraust, dass er die Rettung deiner Seele für dich bewirkt, wirst du Ihm näher und immer näher kommen und verstehen, was es heißt, den Anblick des Unsichtbaren zu ertragen. Gott möchte, dass wir in Seiner Liebe ganz zur Ruhe kommen. Der innere Friede, den Christus schenkt, ist unendlich wertvoller als Gold, Silber und Edelsteine …