84. Solange wir leben, ist unsere Aufgabe, durch „seine göttliche Kraft“ und „die kostbaren und größten Verheißungen“ unsere „Berufung und Erwählung fest zu machen“ (2Pe 1,3.4.10).

Kann man wirklich die Bibel lesen und die Hunderte und Tausende moralischer Appelle – Ermutigung, Ermahnung, Stärkung, Belehrung, Motivierung, Zurechtweisung – übersehen, die auf buchstäblich jeder einzelnen Seite an die Gläubigen gerichtet werden? Welchen Sinn hätten alle diese Weisungen, wäre unsere Rettung schon „vollbracht“ und unser Heil bereits „gewiss“? Sie wären kaum mehr als Beiwerk, Zierrat, Makulatur. Und so werden sie, wenn wir ehrlich sind, teilweise in unseren Reihen auch behandelt.

Ist in unsere Gemeinden die „antiautoritäre Erziehung“ auf geistlicher Ebene eingedrungen? Fürchten wir uns, Maßstäbe aufzuzeigen und moralische Standards einzufordern? Hoffen wir, die Bäume in unserem Gemeindegarten würden schon von selbst die richtige Form annehmen und reiche Frucht bringen, wenn wir uns nur alle „lieb haben“ und jeden „bedingungslos annehmen“? Aus diesem Traum sollten wir aufwachen, denn das funktioniert weder in der Kinder- noch in der Erwachsenenerziehung. Von allein wächst in dieser Welt nur das Böse. Wir sind gefallene Wesen, selbst in bekehrtem Zustand. Nur durch gezielte, gewollte und beständige Prägung – von innen durch den Dienst des Heiligen Geistes, von außen durch den Dienst der Gemeindefamilie – entsteht ein schöner, Christus ähnlicher, himmelstauglicher Charakter.

Möge der Geist uns die folgenden Worte aufschließen und tief einprägen, denn sie sind eines der zahllosen Beispiele für die biblische Ausgewogenheit zwischen notwendiger Ermahnung und notwendiger Ermutigung:

2Pe 1,3 Da seine göttliche Kraft uns alles zum Leben und zur Gottseligkeit geschenkt hat durch die Erkenntnis dessen, der uns berufen hat durch seine eigene Herrlichkeit und Tugend,

4 durch die er uns die kostbaren und größten Verheißungen geschenkt hat, damit ihr durch sie Teilhaber der göttlichen Natur werdet, die ihr dem Verderben, das durch die Begierde in der Welt ist, entflohen seid:

5 eben deshalb wendet aber auch allen Fleiß auf und reicht in eurem Glauben die Tugend dar, in der Tugend aber die Erkenntnis,

6 in der Erkenntnis aber die Enthaltsamkeit, in der Enthaltsamkeit aber das Ausharren, in dem Ausharren aber die Gottseligkeit,

7 in der Gottseligkeit aber die Bruderliebe, in der Bruderliebe aber die Liebe!

8 Denn wenn diese Dinge bei euch vorhanden sind und zunehmen, lassen sie euch im Hinblick auf die Erkenntnis unseres Herrn Jesus Christus nicht träge und nicht fruchtleer sein.

9 Denn bei wem diese Dinge nicht vorhanden sind, der ist blind, kurzsichtig und hat die Reinigung von seinen früheren Sünden vergessen.

10 Darum, Brüder, befleißigt euch umso mehr, eure Berufung und Erwählung fest zu machen! Denn wenn ihr diese Dinge tut, werdet ihr niemals straucheln.

11 Denn so wird euch reichlich gewährt werden der Eingang in das ewige Reich unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus.

74. Der Einzug der Adventgemeinde ins himmlische Kanaan wird bis heute verhindert, weil die Gemeinden eher auf die Vielen hören, die unermüdlich gegen Charaktervollkommenheit predigen, und die Wenigen, die auf Gottes erlösende Macht hinweisen, als Extremisten bekämpfen.

1883 schrieb Ellen White:

Ev 696 Vierzig Jahre lang schlossen Unglaube, Murren und Auflehnung das alte Israel vom Land Kanaan aus. Dieselben Sünden haben den Eintritt des heutigen Israel in das himmlische Kanaan verzögert.

Als Gott fünf Jahre darauf Jones und Waggoner als Seine Boten beauftragte, der versammelten Generalkonferenz in Minneapolis eine wunderbare Botschaft von Christus als liebendem, mächtigem Erlöser vorzutragen, die endlich den Weg nach Kanaan freimachen sollte, stieß diese Verkündigung auf großen Widerstand (siehe These 44 und folgende). Rund 40 Jahre nach dieser Konferenz zog Taylor Bunch, Prediger und Autor, einen typologischen Vergleich zwischen Israels Wüstenwanderung und der ausbleibenden Wiederkunft Jesu seit 1888, und auch dies führte zu Unverständnis und dem Erscheinen diverser Rechtfertigungsliteratur vonseiten anderer Adventisten. Eigenartig, wo doch Ellen White prinzipiell das Gleiche bereits 1883 zum Ausdruck gebracht hatte.

Was denn sonst sollte die Wiederkunft verzögern als „menschliches Versagen“ auf unserer Seite? Für mich ist schwer verständlich, warum wir uns gegen diese Einsicht so wehren. Wer sich mit unserer Geschichte ehrlich beschäftigt, kann meines Erachtens nur zum selben Schluss kommen. Und dahinter steht nicht etwa ein Bedürfnis, die eigene Gemeinde „schlecht zu machen“. Vielmehr ist es unverzichtbar zu erkennen, an welcher Weggabelung wir bzw. unsere Vorväter falsch abgebogen sind, wenn wir unseren Weg korrigieren und am Ende doch noch unser herrliches Ziel erreichen wollen. Deswegen sollten wir Gott dankbar sein, wenn Er uns auf Probleme und Fehler hinweist! Sind sie doch ein Schlüssel für eine hellere Zukunft als Gemeinde und letztlich für den Abschluss der weltweiten Mission, die Christus uns anvertraut hat.

Warum sind wir noch nicht im himmlischen Kanaan? Man kann viel darüber sinnieren, dass das Evangelium noch nicht alle Länder, Sprachen und Völker erreicht hat, dass bestimmte prophetische Entwicklungen noch ausstehen, dass wir noch auf den Spätregen warten etc. Aber all das wird uns nicht entscheidend voranbringen, solange wir den eigentlichen Kern des Evangeliums und des priesterlichen Dienstes im Allerheiligsten – die charakterliche Vervollkommnung der Gläubigen – als fanatischen Irrweg ablehnen.

Mit dieser Haltung beweisen wir eine traurige Unkenntnis des Wesens Gottes – der wunderschönen Harmonie zwischen Seiner Liebe und Seiner Gerechtigkeit. Würde Gott weniger als Vollkommenheit von uns erwarten, wäre Er nicht gerecht, aber würde Er uns weniger als Vollkommenheit schenken, wäre Er nicht Liebe. Doch Er ist beides! Am Kreuz haben sich „Gerechtigkeit und Frieden geküsst“ (Ps 85,11). Das Blut Jesu ist der unübertreffbare Beweis für Gottes Liebe und Gottes Gerechtigkeit – nicht als Gegensätze oder Konkurrenz, sondern als perfekte, göttliche Ganzheit, als das unauslotbare Wunder des göttlichen Wesens. Ohne diese Gotteserkenntnis, die uns „in dasselbe Bild verwandelt von Herrlichkeit zu Herrlichkeit“ (2Kor 3,18), sind wir nicht bereit, Christus „in seiner Herrlichkeit“ (Mt 25,31) zu begegnen.

Israels Prüfung und Versagen bei Kadesch-Barnea, nachdem die zwölf Kundschafter zurückgekehrt waren, hat uns viel zu sagen – mehr, als uns lieb sein kann. Im Eifer des Gefechts kann es ausgesprochen schwer sein, Freund und Feind auseinanderzuhalten. Angst und Verzweiflung machten das Volk blind, sodass sie der plausibel klingenden Lüge der zehn glaubten und die rettende Wahrheit in Form der übrigen zwei Kundschafter „steinigen“ wollten. Ist so etwas auch unter Gottes Volk heute denkbar? Möge der Herr uns Augensalbe schenken.