60. Die Lehre der Charaktervervollkommnung ist nicht extrem, sondern die konsequente Weiterführung der reformatorischen Glaubensgerechtigkeit und unsere einzige Hoffnung auf ewiges Leben. Sie „gibt Gott die Ehre“ (Off 14,7) als Neuschöpfer und mächtigem Erlöser. Sie ist der einzige biblische und logische Weg zur endgültigen Beseitigung der Sünde und die großartigste Verheißung, die Gott Menschen je gemacht hat.

Vollkommenheit ist Heiligkeit, Reinheit, Wahrhaftigkeit, Liebe, Gerechtigkeit, Makellosigkeit, Untadeligkeit, Schönheit, Vollendung. Vollkommenheit vereint alles nur denkbar Positive in sich. Sie ist eine tiefgreifende Beschreibung des Wesens Gottes und in ihrer ultimativen Bedeutung Göttlichkeit par excellence. Wenn Vollkommenheit extrem ist, ist Gott extrem. Aber weil das natürlich nicht der Fall und Gott tatsächlich absolut und ohne jede Einschränkung gut ist, ist Vollkommenheit absolut und ohne jede Einschränkung gut.

Warum hat Vollkommenheit dann einen so schlechten Ruf in unseren Reihen? Warum schmeckt sie so anrüchig nach Fanatismus? Wieso schätzen, ehren und erstreben wir sie so wenig als eine unvergleichliche, erstaunliche und kostbarste Gabe Gottes? Weshalb lieben und ersehnen wir sie nicht als Ausdruck alles dessen, was unseren Vater im Himmel ausmacht und im Leben von Jesus Christus offenbar geworden ist? Wer oder was hat die Bedeutung dieses, ich möchte sagen, „heiligen“ Begriffes so getrübt und verdreht?

Christliche Vollkommenheit ist die Frucht wahrer Rechtfertigung. Ein Glaube, der uns in lebendige Gemeinschaft mit Christus bringt, führt immer zur inneren Vervollkommnung. Vollkommenheit ist die Verwirklichung und der Beweis echter Glaubensgerechtigkeit. Der Glaube ist das Alpha, Vollkommenheit das Omega und Christus, „das Alpha und das Omega“ in Person, ist auch das gesamte Alphabet, das diese beiden griechischen Buchstaben miteinander verbindet.

Ein geschätzter Prediger und Bibellehrer hielt einmal einen Vortrag über Rechtfertigung, bei dem ich anwesend war. Er stellte Heiligung als eine Kurve der Sittlichkeit dar, die ab der Bekehrung einen Aufwärtstrend mit Höhen und Tiefen erfuhr und dort, wo das Lebensende markiert war, bei etwa „70 % Heiligkeit“ auslief. In einem anschließenden Briefwechsel fragte ich ihn, was denn mit den fehlenden 30 % geschehe, da doch laut Bibel und Geist der Weissagung über den Tod hinaus keine Heiligung mehr stattfinde. Abgesehen davon, dass mir meine Argumentation das Prädikat eines „klassischen Perfektionisten“ einheimste, lautete seine Antwort: „Wir werden nicht aufgrund unserer Heiligung gerettet, sondern aufgrund des Todes Christi.“

Das ist eine leider häufig auftretende Du-fragst-nach-einem-Apfel-Hier-hast-du-eine-Birne-Antwort. Meine Nachfrage bezog sich nicht auf das Fundament, sondern auf das Gebäude, das darauf entsteht, und was denn passiert, wenn der Dachstuhl zwar steht, aber nie mit Ziegeln gedeckt wird. Ein Hinweis auf die tadellose Qualität des Fundamentes ist wenig hilfreich, wenn der Regen einsetzt.

Auf die Erlösung bezogen: Der Tod Christi ist in der Tat die Grundlage unserer Rettung, aber die Rettung selbst besteht in Vergebung und einem neuen Herzen – als Frucht und praktische Auswirkung von Christi Kreuzestod. Heiligung ist konkret gewordene Rettung, und deswegen lautete obige Antwort eigentlich: „Wir werden nicht aufgrund unserer Rettung gerettet, sondern aufgrund des Todes Christi.“ Nun steht es mir fern, diesem Bruder Böses zu unterstellen; doch tatsächlich gebrauchte er Golgatha als Begründung dafür, warum wir keine Rettung (in Gestalt völliger Heiligung) bräuchten.

Es stimmt: Wir werden nicht aufgrund unserer Heiligung gerettet – Heiligung ist die Rettung! Wir werden auch nicht aufgrund unserer Vollkommenheit erlöst – Vollkommenheit ist die Erlösung! Es geht hier schlicht um Ursache (Rechtfertigung) und Wirkung (Vervollkommnung), und ich kann eine mangelhafte Wirkung nicht damit beiseiteschieben, dass ich auf die wichtige Rolle der Ursache verweise.

Darum: Vollständige Heiligung ist der Zwillingsbruder von und die logische Konsequenz aus vollständiger Rechtfertigung, wie die Reformation sie entdeckt und verkündet hat. Und würde Gott uns Hoffnung auf ewiges Leben machen auch ohne sittliche Vollkommenheit, müsste er ein Plätzchen für Unvollkommenheit genannt „Sünde“ lassen und würde sie zwangsläufig mit verewigen.

„Aber so kleinlich wird Gott doch nicht sein …“ Kleinlich? Wenn das kleinlich ist, dann war es auch kleinlich, Adam und Eva wegen eines Apfels aus dem Paradies zu vertreiben und zum Tode zu verurteilen. Sind 6 000 Jahre auf einer Welt der Sünde immer noch nicht genug, um in furchtbarer Anschaulichkeit das Gegenteil zu beweisen? Eine „kleine Sünde“ war der Auslöser für das ganze grenzenlose Elend und Desaster auf diesem Planeten, ja für den unvorstellbar grausamen Tod des Sohnes Gottes – und wir wollen eine „kleine Sünde“ wieder in den Himmel importieren? Das Universum wird vor den katastrophalen Früchten der Rebellion erst sicher sein, wenn auch alle ihre Samenkörner – die kleinen Sünden, mit denen sie anfängt – vernichtet sind.

4T 578 Ein Schritt in die falsche Richtung ebnet den Weg für den nächsten. Ein einziges Glas Wein kann der Versuchung die Tür öffnen und einen Gewohnheitstrinker hervorbringen. Einen einzigen Moment Rachegefühlen nachzugeben, kann eine Kette von Emotionen in Gang setzen, die im Mord endet. Die kleinste Abweichung von Recht und Ordnung wird zur Trennung von Gott führen und kann im Glaubensabfall enden.

Mir ist bewusst, dass viele keinen Zweifel daran haben, dass die Neue Erde ein vollkommener Ort sein wird, nur finden sie viele Gründe, warum das angeblich auch ohne völlige Heiligung in diesem Leben funktioniert. Sie sagen, im Himmel werden wir nicht mehr sündigen, weil

  • wir vorher versiegelt worden sind,
  • wir durch die Verwandlung bei der Wiederkunft keine gefallene Natur mehr haben,
  • der Teufel nicht mehr da ist, um uns zu versuchen,
  • wir in dieser wunderbaren Umgebung gar nicht auf böse Gedanken kommen
  • usw.

Alle diese Begründungen verschieben die Ursache oder zumindest Verantwortung für meinen Ungehorsam nach außen: Ich sündige, weil Gott mich noch nicht versiegelt hat, weil ich meiner Natur nicht widerstehen kann, weil der Teufel mich anstachelt oder weil ich so wenig gute Vorbilder habe … Wenn wir solche Gedanken hegen, brauchen wir uns nicht zu wundern, dass wir nicht überwinden – wir verteidigen unsere Schwächen ja und verhindern damit, dass der Heilige Geist uns Reue und Vergebung schenkt, was wiederum die Grundvoraussetzung für ein geisterfülltes Leben als Überwinder ist.

Es gibt aber einen anderen, entscheidenden Grund, warum alle diese Überlegungen nichtig sind: Christus. Er war nicht versiegelt, Er hatte unsere gefallene Natur, der Teufel versuchte Ihn weit heftiger als jeden anderen Sterblichen, und Er war in derselben trostlosen Umgebung voller schlechter Vorbilder wie auch wir. Und dennoch war Sein Leben von makelloser Reinheit. Er ist unser Beispiel. Sein Weg führt zu vollkommener Gerechtigkeit. Christus in uns ist die „Hoffnung der Herrlichkeit“ (Kol 1,27; siehe auch These 62).

Zum Punkt, dass vollkommene Gerechtigkeit „unsere einzige Hoffnung auf ewiges Leben“ ist, sei kurz daran erinnert, was der Geist der Weissagung über Einwände gegen „Vollkommenheit“ und „Tadellosigkeit in Liebe und Heiligkeit“ zu sagen hat (siehe vorige These):

BE, 15.1.1892 Jemand mag sagen: „Diesem Anspruch kann ich unmöglich gerecht werden.“ Aber genau das musst du, sonst wirst du den Himmel niemals betreten.

Zum Punkt, dass Gott dadurch geehrt wird, dass er Menschen charakterlich vervollkommnet, noch einmal ein Zitat aus These 38:

DA 671 Die Vervollkommnung des Charakters seines Volkes ist eine Ehrensache für Gott, eine Ehrensache für Christus. (vgl. LJ 670)

Ja, wahrhaftig: Unsere Vervollkommnung ist „die großartigste Verheißung, die Gott Menschen je gemacht hat“ – so tief und groß und weit, dass sie uns fast überwältigt und wir unseren Kleinmut spüren, sie zuversichtlich und dankbar in Anspruch zu nehmen! Aber gehen wir doch wie einst die Jünger zum Herrn und bitten Ihn: „Mehre uns den Glauben!“ (Lk 17,5)

42. Es heißt „Gerechtigkeit aus Glauben“, nicht „Ungerechtigkeit trotz Glauben“.

Obwohl wir als Adventisten ein ganzheitliches Menschenbild haben, das sich z. B. in der Ablehnung einer unsterblichen Seele und in der Betonung eines gesunden Lebensstiles zeigt, nehmen viele von uns bei der Erlösung eine Aufspaltung in Theorie und Praxis, in Wort und Tat vor, um daraufhin dem Wort (der Rechtfertigung) den Vorrang vor der Tat (der Heiligung) zu geben und wortwörtlich in dieser isolierten Rechtfertigung „ihr Heil zu suchen“ bzw. ihre „Heilsgewissheit“.

Diese Unausgewogenheit, die in den unterschiedlichsten Graden vorliegen kann, widerspricht nicht nur dem biblischen Menschenbild, sondern – was schwerer wiegt – dem biblischen Gottesbild, in dessen Ähnlichkeit wir geschaffen sind. Es wäre eine wesentliche Beschädigung der göttlichen Integrität, die Satan umgehend anprangern würde, wenn Gott zwar vollständig gerecht sprechen, aber nur unvollständig gerecht machen würde. Es würde Gott selbst dem Vorwurf aussetzen, dem eigenen Wort mehr Gewicht zu geben als der eigenen Tat und keine vollkommene Einheit von Bekenntnis und Handeln zu verkörpern.

Gott ist „die Wahrheit“, wie Jesus sich selbst nennt, und dies bedeutet im biblischen Sprachgebrauch, dass Sein Reden und Handeln vollkommen deckungsgleich sind (ein besseres deutsches Wort dafür wäre „Wahrhaftigkeit“ oder moderner ausgedrückt „Integrität“). Wenn aber Gott so ist, dann war es auch der in Seinem Bild geschaffene Mensch, und dann muss Erlösung auch die Wiederherstellung dieser Wahrhaftigkeit beinhalten. Der biblische Begriff von „Gerechtigkeit“ ist aus diesen Gründen durchweg ganzheitlich – die Einheit zwischen Wort und Tat, Gerechtigkeit als innere Qualität, deren Echtheitsbeweis immer in einem gerechten Leben liegt. Deswegen ist es auch kein Problem, im Gericht nach Werken zu urteilen und nicht nach Glauben. Es ist effektiv ein und dasselbe, weil der Mensch wie Gott ein ganzheitliches Wesen ist, ein wahrhaftiges Wesen.

Auf den Punkt gebracht: Gerechtigkeit aus Glauben ist biblisch nichts anderes als die vollkommene Übereinstimmung von Gerechtsprechung und Gerechtmachung. Sie ist „Vollkommenheit aus Glauben“ – die Wiederherstellung des göttlichen Abbildes im Menschen, der sich zu einem Gott der Liebe nicht nur mit Worten bekennt, sondern diese Liebe in seinem menschlichen Wirkungskreis praktisch lebt und sie sogar seinen Feinden zukommen lässt. Diese Liebe umschließt alles, was Gott vom Menschen „fordert“. Sie ist vollkommener Gehorsam und vollkommene Gerechtigkeit im biblischen Sinn. Sie ist die unweigerliche Frucht des „Glaubens Jesu“ (Off 14,12).

Wenn uns das fremd vorkommt, sollten wir unser Heil nicht in einer Theologie suchen, die auch für Nichtüberwinder viel Platz im Himmel hat, sondern ohne Beschönigung, aber dennoch in kindlicher Zuversicht zu Jesus gehen, der uns liebt, und Ihn von ganzem Herzen um das geläuterte Gold bitten, das Laodizea so sehr braucht. Er ist langmütig, mitfühlend und kennt unsere menschliche Misere in jeder Einzelheit. An Ihn zu glauben, bringt eine Gerechtigkeit, die den ganzen Menschen in allen Aspekten umfasst, ihn in Körper, Seele und Geist radikal umgestaltet und sich in einem neuen, christusähnlichen Denken, Sprechen und Leben offenbart.

Ein Glaube, der diese Gerechtigkeit weder beansprucht noch hervorbringt, ist kein rettender Glaube.