72. Gerade weil der Neue Bund Vollkommenheit bewirkt, kann Jesu Dienst im himmlischen Heiligtum eines Tages aufhören (Heb 10,1).

Dan 9,24 Siebzig Wochen sind über dein Volk und über deine heilige Stadt bestimmt, um das Verbrechen zum Abschluss zu bringen und den Sünden ein Ende zu machen und die Schuld zu sühnen und eine ewige Gerechtigkeit einzuführen und Gesicht und Propheten zu versiegeln, und ein Allerheiligstes zu salben.

Mt 1,21 Und sie wird einen Sohn gebären, und du sollst seinen Namen Jesus nennen; denn er wird sein Volk erretten von seinen Sünden.

Joh 1,29 Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt!

Christi Menschwerdung, Sein Leben, Sterben sowie Sein himmlischer Priesterdienst dienen dem einen Ziel: den tragischen Einbruch der Sünde in diese Welt mit all seinen schrecklichen Folgen für immer umzukehren – den Fluch der Übertretung auf sich zu nehmen und uns unter Gottes ewigen Segen zu stellen. Daniel prophezeite über den Messias, Er werde der Sünde „ein Ende machen“ und an ihre Stelle für alle Zeiten „Gerechtigkeit“ setzen. Dies geschieht kraft Seines Dienstes im Heiligtum, wo das Blut von Golgatha wirksam gemacht wird.

Heb 9,12 [Christus ist] mit seinem eigenen Blut ein für allemal in das Heiligtum hineingegangen und hat uns eine ewige Erlösung erworben.

Die Grundlage der Erlösung ist Jesu Opfer am Kreuz (Sein „Blut“), doch zu unserer persönlichen Erlösung wird dieses Opfer erst durch Jesu Vermittlung als Hohepriester. Es mag banal klingen, ist aber so essenziell zu verstehen: Heiligung geschieht im Heiligtum. Dort kommt das Blut des Sohnes Gottes zur Anwendung, und von dort geht alles aus, was zu unserem Heil notwendig ist. Deswegen heißt es über die Erlösten im Himmel:

Off 7,14 Sie haben ihre Gewänder gewaschen und sie weiß gemacht im Blut des Lammes.

Wer die „ewige Gerechtigkeit“ erlangt, die der Messias auf diese Erde gebracht hat, und wer nicht, entscheidet sich im Heiligtum. Darum sagt Christus, wenn er seinen Dienst im Heiligtum beendet:

Off 22,11 LUT Wer Böses tut, der tue weiterhin Böses, und wer unrein ist, der sei weiterhin unrein; aber wer gerecht ist, der übe weiterhin Gerechtigkeit, und wer heilig ist, der sei weiterhin heilig.

Solange Christus vor dem Gnadenthron Fürsprache einlegt, kann sich jeder Mensch zu Gott wenden, doch wenn Seine Fürbitte beendet ist, ist der Zustand des Menschen – er sei gerecht oder ungerecht – verewigt. Es gibt da auch keine Grauzone, keine dritte Gruppe von Leuten, die „ziemlich heilig“ oder „fast immer gerecht“ sind. Jeder Mensch wird entweder „böse und unrein“ sein oder „gerecht und heilig“. Das ist einerseits ernst und ernüchternd, andererseits aber auch voller Hoffnung, weil es beweist, dass unzählige Menschen mit den gleichen Schwachheiten wie wir tatsächlich einmal zur zweiten Gruppe gehören werden: zu denen, die nach Jesu unbestechlichem und wahrhaftigem Urteil wirklich „Gerechte und Heilige“ sind, was ja nur andere Begriffe für „Vollkommene“ sind!

Um zu erklären, warum wir im Glauben zu Recht unsere Vervollkommnung erwarten dürfen, stellt Paulus im Hebräerbrief Alten und Neuen Bund einander gegenüber. Der Alte Bund beweist durch seine ständig wiederholten Rituale seine Wirkungslosigkeit gegenüber dem Sündenproblem, der Neue Bund dagegen beweist durch seine einmaligen Handlungen seine enorme Wirksamkeit. Der Alte Bund konnte die Gläubigen nicht vervollkommnen, der Neue Bund tut es! Beachten wir folgenden Vergleich:

Alter Bund Neuer Bund
  • „mit Händen gemachtes Heiligtum“ (9,24)
  • „größeres, vollkommeneres Heiligtum, nicht von dieser Schöpfung“ (9,11)
  • „wahrhaftiges“ Heiligtum (9,24)
  • „Schatten“ (10,1)
  • „Satzungen des Fleisches“ (9,10)
  • „Ebenbild“ (10,1)
  • „Hohepriester geht alljährlich in das Heiligtum hinein“ (9,25)
  • „alljährlich ununterbrochen dieselben Schlachtopfer“ (10,1)
  • „täglicher“ Dienst, „oft dieselben Schlachtopfer“ (10,11)
  • Christus „ist ein für alle Mal in das Heiligtum eingegangen“ (9,12)
  • „ein für alle Mal geschehenes Opfer“ Jesu (10,10)
  • ein Schlachtopfer für Sünden“ (10,12)
  • „alljährlich ein Erinnern an die Sünden“ (10,3)
  • „Ihrer Sünden und ihrer Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken“ (10,17)
  • „Blut von Böcken und Kälbern“ (9,12.19)
  • „fremdes Blut“ (9,25)
  • Christi „eigenes Blut“ (9,12.14)
  • Blut reinigt das „Fleisch“ (9,13)
  • Blut reinigt das „Gewissen“ (9,14)
  • Gaben und Schlachtopfer können den Anbeter „nicht vollkommen machen“ (9,9)
  • Opfergesetz „kann niemals die Hinzunahenden vollkommen machen“ (10,1), sonst hätten die Opferungen „aufgehört“ (10,2)
  • „Mit einem Opfer hat er auf immerdar die vollkommen gemacht, die geheiligt werden“ (10,14)
  • Die wahre „Vergebung“ lässt die Opfer aufhören (10,18)

Gerade der letzte Punkt ist wichtig für unsere Betrachtung: Hätten die Opferungen des Alten Bundes die Anbeter vollkommen gemacht, dann hätten sie aufgehört. Christi Opfer im Neuen Bund dagegen lässt die Opfer aufhören, weil es die Anbeter zur Vollkommenheit führt. Das ist der Kern von der gesamten Argumentation im Hebräerbrief: Der Neue Bund ist in allen seinen Belangen vollkommen: vom Heiligtum über das Opfer bis zum Hohepriester. Deshalb ist dieser Bund auch in der Lage, das hervorzubringen, was über Christus geweissagt worden ist: „eine ewige Gerechtigkeit“ (Dan 9,24).

Fazit: Die Tatsache, dass Christi Mittlerdienst im Himmel eines Tages aufhören wird, sollte uns nicht mit Befürchtungen erfüllen, sondern vielmehr starken Trost geben, weil wir damit sicher wissen, dass Jesu Fürsprache in der Tat die vollkommene Heiligung der Gläubigen bewirkt!

48. Weitere Anzeichen dieses Einflusses sind eine Schwerpunktverschiebung des Heilsgeschehens weg vom Heiligtum hin zu Golgatha, die Kehrtwende im Verständnis der menschlichen Natur Jesu von gefallen zu ungefallen sowie die Umdeklarierung des Untersuchungsgerichtes zum Vorwiederkunftsgericht.

Wer die geistliche Entwicklung der Adventgemeinde in den letzten 60 Jahren verstehen will, sollte unbedingt die Geschichte des Buches Questions on Doctrine studieren. Dieses Buch war ein ganz wesentlicher Faktor für die fatale Annäherung adventistischer Theologie an den gefallenen Protestantismus, mit den in dieser These beschriebenen (und weiteren) Symptomen.

Natürlich ist das große Opfer Jesu auf Golgatha die Grundlage von allem! Trotzdem sollen wir „im Glauben“ unserem Erlöser in seinem Dienst im Himmel „folgen“, wie Ellen White es ausdrückt und wie die nächsten Thesen noch klarer darstellen werden. Jede Zeit hat ihre „gegenwärtige Wahrheit“, die die vorigen Wahrheiten nicht abschwächt oder ablöst, sondern auf ihnen aufbaut und sie vertieft. In Heiligtumssprache: Christi Vermittlung im Heiligen (Heiligung) baut auf Golgatha (Vergebung) auf, und der große Versöhnungstag im Allerheiligsten (Vollendung) baut auf das Heilige (Heiligung) auf. Obwohl alle Elemente wichtig sind, sollte unser Hauptaugenmerk auf der Phase liegen, die für unsere Zeit gerade aktuell ist, sprich: das Allerheiligste und das Untersuchungsgericht (Vollendung / Vervollkommnung).

Warum erwähne ich die Umbenennung des Untersuchungsgerichtes zum „Vorwiederkunftsgericht“? Es ist nur ein Detail, fügt sich aber ins Gesamtbild ein: Der Begriff „Untersuchung“ kommt schnell etwas unangenehm und persönlich daher – er klingt nach Verantwortung, Rechenschaft und könnte ein schlechtes Gewissen oder Beklemmung hervorrufen. „Vorwiederkunft“ dagegen ist als reiner Zeitbegriff angenehm sachlich und mischt sich nicht in mein persönliches Leben ein. Er passt viel besser zu einem Verständnis von Gericht, wo nicht etwa mein Leben und Charakter „untersucht“ werden, sondern einfach festgestellt wird, dass mir durch den Glauben der vollkommene Gehorsam Christi zugerechnet wird (eine faktische, nichtsubjektive Feststellung), da ich aufgrund meiner gefallenen Natur sowieso nicht zu echtem Gehorsam fähig bin.

Womit sich außerdem die Frage geklärt hat, welche Natur Jesus als Mensch besaß: natürlich die ungefallene – sonst wäre er ja nicht sündlos gewesen (generell wird eingeräumt, dass er zumindest unsere körperlichen Schwächen teilte). Um ohne Sünde leben zu können, brauchte Jesus die ungefallene Natur Adams, und da wir nach der Bekehrung unsere gefallene Natur behalten, begehen wir auch bis zum Ende Sünden und können gar nicht anders. Weil Gott das wusste, sandte er Jesus, damit sein perfekter Gehorsam und seine tadellose Gerechtigkeit uns zugerechnet werden können. Damit ist das Problem gelöst, unser Heil gesichert, und wir bleiben von der unerträglichen Last verschont, so leben zu müssen, wie Jesus gelebt hat, und so zu überwinden, wie er überwunden hat. Die ganze Sache mit der Charaktervollkommenheit ist damit ebenfalls als Irrlehre entlarvt, und wir dürfen uns erleichtert auf das sanfte Ruhekissen ungestörter „Heilsgewissheit“ zurücklehnen …

Die ganze Sichtweise und ihre Elemente sind für sich betrachtet durchaus schlüssig – zumindest solange wir bestimmte Wahrheiten ausblenden, wie zum Beispiel:

Off 3,5 Wer überwindet, der wird mit weißen Kleidern bekleidet werden; und ich will seinen Namen nicht auslöschen aus dem Buch des Lebens …

Off 7,9 Nach diesem sah ich: und siehe, eine große Volksmenge, die niemand zählen konnte, aus jeder Nation und aus Stämmen und Völkern und Sprachen, stand vor dem Thron und vor dem Lamm, bekleidet mit weißen Gewändern und Palmen in ihren Händen …

14 … sie haben ihre Gewänder gewaschen und sie weiß gemacht im Blut des Lammes.

Röm 2,13 Es sind nicht die Hörer des Gesetzes gerecht vor Gott, sondern die Täter des Gesetzes werden gerechtfertigt werden.

Mt 12,36 Ich sage euch aber, dass die Menschen von jedem unnützen Wort, das sie reden werden, Rechenschaft geben müssen am Tag des Gerichts;

37 denn aus deinen Worten wirst du gerechtfertigt werden, und aus deinen Worten wirst du verdammt werden.

3T 370 Gott wägt unseren Charakter, unser Verhalten und unsere Beweggründe auf den Waagschalen des Heiligtums.

Deswegen können diese Thesen gar nicht anders als stören. Sie müssen es. Dennoch ist ihr eigentliches Ziel ein heilsames, froh machendes, erlösendes! Und ich hoffe, dies kommt trotz der nötigen Unverblümtheit auch zum Ausdruck.

30. Die drei Abteile des Heiligtums – Vorhof, Heiliges und Allerheiligstes – stellen die drei Phasen des Erlösungsplanes dar.

Wenn der Heiligtumsdienst eine Veranschaulichung des Erlösungsplanes ist, mit Christus als Sühneopfer und Hohepriester im Mittelpunkt, dann ist es selbstredend, dass die Kenntnis oder Unkenntnis über die damit verbundene Symbolik einen großen Unterschied im Verständnis davon macht, wie ein Mensch gerettet wird. Das richtige Verständnis ist aber von entscheidender Bedeutung! Nicht umsonst hat Gott Mose darum alle mit dem alttestamentlichen Heiligtum verbundenen Maße, Materialien, Geräte, Ordnungen und Zeremonien bis ins Detail geschildert.

Ohne das irdische Heiligtum wüssten wir nichts von den entsprechenden Vorgängen im Himmel und dem Wechsel von Jesu Dienst am 22. Oktober 1844. Der himmlische Tempel war der entscheidende Schlüssel zur Erklärung der großen Enttäuschung und für die nachfolgende Entstehung der Siebenten-Tags-Adventisten mit ihrem ausgewogenen Verständnis von Gesetz und Evangelium sowie einer klaren Sicht vom großen Kampf um den Charakter Gottes und seiner prophetischen Gipfelung in der endzeitlichen Sabbatfrage. Nirgendwo sonst in der Christenheit sind diese biblischen Zusammenhänge in der Breite und Deutlichkeit zu finden wie in der Adventgemeinde.

Es ist durchaus nachvollziehbar, dass evangelische Christen in ihrer Rechtfertigungstheologie im Vorhof stehenbleiben, weil sie vom Heiligen und Allerheiligsten im Himmel nichts wissen. Adventisten haben aber allen Grund, hier im besten Sinne „progressiv“ zu sein und ein vollständiges Evangelium zu verkündigen, das das ganze Spektrum von den Anfängen des Glaubens bis zu seiner Vollendung umfasst (Heb 12,2). Diese neuen und erweiterten Einsichten lehrte Gott die Adventgläubigen nach der Enttäuschung, und diese Einsichten, die nun der ganzen Welt verkündigt werden sollten, waren nichts anderes als die dreifache Engelsbotschaft.

So beschreibt der Große Kampf die Situation der Adventgläubigen kurz nach dem 22. Oktober 1844:

GC 424f. [Sie] waren noch nicht bereit, ihrem Herrn zu begegnen. Es musste noch ein Werk der Vorbereitung für sie getan werden. Sie sollten Licht erhalten, das ihre Aufmerksamkeit auf Gottes Tempel im Himmel lenkte, und wenn sie im Glauben ihrem Hohepriester in seinem Dienst dorthin folgten, würden neue Aufgaben offenbar werden. Die Gemeinde sollte noch eine weitere Botschaft mit Warnungen und Anweisungen erhalten …

Während das Untersuchungsgericht im Himmel stattfindet und die Sünden der reuigen Gläubigen vom Heiligtum entfernt werden, muss unter Gottes Volk auf der Erde ein besonderes Werk der Reinigung geschehen, ein Ablegen von Sünde. Dieses Werk wird in den Botschaften aus Offenbarung 14 noch klarer dargestellt.

Wenn dieses Werk getan ist, werden Christi Nachfolger für sein Erscheinen bereit sein. „Dann wird die Opfergabe Judas und Jerusalems dem HERRN angenehm sein, wie in den Tagen der Vorzeit und wie in den Jahren der Vergangenheit.“ (Mal 3,4) Dann wird unser Herr bei seinem Kommen eine Gemeinde zu sich nehmen, „die herrlich sei, sodass sie weder Flecken noch Runzeln noch etwas Ähnliches habe“ (Eph 5,27). (vgl. GK 426f.)

Ellen White sagt hier deutlich, dass Jesu Dienst im Allerheiligsten den Zweck hat, die Gemeinde auf seine Wiederkunft „vorzubereiten“. Diese geschieht durch ihre „Reinigung“ parallel zur Reinigung des Heiligtums im Himmel. Ihre Sünden müssen „abgelegt“ werden, denn die Gläubigen sind erst dann für Christi Erscheinen bereit, wenn sie „weder Flecken noch Runzeln“ haben, was nichts anderes bedeutet als sittliche Vollkommenheit. Dies, so sagt sie, ist der Inhalt der Botschaften aus Offenbarung 14.

Die dreifache Engelsbotschaft ist somit eine Erläuterung dessen, was Gott durch den großen Versöhnungstag für jeden Gläubigen tun und wie Er die Weltgeschichte zum Abschluss bringen will: durch die Vervollkommnung der Gemeinde und ihr weltweites Zeugnis über „Christus unsere Gerechtigkeit“ in der Fülle des Spätregens. Das entscheidende Merkmal von Gottes Gemeinde in dieser letzten Zeit ist ihr „Glaube“ und ihr „Gehorsam“ (Off 14,12) – aber „vollendeter“ Glaube (1Ths 3,10; 2Ths 1,11; Jak 2,22) und „vollkommener“ Gehorsam = bedingungslose Liebe (Mt 5,48). Es ist „vollendete Heiligung“ (2Kor 7,1), denn das Kleid von Jesu Braut – ein Bild für den Charakter – wird bei seinem Kommen „fein, glänzend, rein“ sein (Off 19,8). Das zu glauben, zu leben und zu verkündigen, ist wahrer „Adventismus“, weil es den „Advent“ – das Kommen Jesu – anbahnt und auf ihn hinwirkt. Es ist die „Beschleunigung“, von der 2. Petrus 3,12 spricht und die direkt mit dem „heiligen Wandel und der Gottseligkeit“ in Vers 11 zu tun hat:

2Pe 3,11 Da dies alles so aufgelöst wird, was für Leute müsst ihr dann sein in heiligem Wandel und Gottseligkeit,

12 indem ihr die Ankunft des Tages Gottes erwartet und beschleunigt, um dessentwillen die Himmel in Feuer geraten und aufgelöst und die Elemente im Brand zerschmelzen werden!