55. Viele Adventisten erkennen zwar ihren mangelnden Sieg über Sünde, nicht aber ihre unvollständige Bekehrung (Lauheit). Daher „kurieren“ sie das Problem auf theologischer Ebene und erklären Jesus zum Stellvertreter statt zum Vorbild, den „elenden Menschen“ aus Römer 7 zum Normchristen und das Gericht zur „guten Nachricht“, weil es sowieso nur auf einen Freispruch hinauslaufen kann.

Der Mensch ist ein „Herdentier“. Instinktiv sucht er die Geborgenheit der Masse und hält für normal, was die große Mehrheit tut. Gegen den Strom zu schwimmen, kostet Kraft; bequeme Traditionen zu hinterfragen und seine eigenen Überzeugungen zu finden, verlangt Mühe und Zielstrebigkeit. Auch im geistlichen Leben ist die Versuchung groß, den Glauben der Vielen zum Maßstab zu machen und das als normal zu akzeptieren, was allgemein gedacht und gelebt wird. Wenn es fast jeder tut, „kann es so schlimm nicht sein“ und „wird es schon stimmen“. Aber diese Vorgehensweise orientiert sich an Menschen und nicht an Gott. Sie war schon immer ein gefährlicher Weg, vor dem die Bibel mit deutlichen Worten warnt:

2Mo 23,2 Du sollst der Menge nicht folgen zum Bösen.

Jer 17,5 So spricht der HERR: Verflucht ist der Mann, der auf Menschen vertraut und Fleisch zu seinem Arm macht und dessen Herz vom HERRN weicht!

Adventisten verstehen sich zu Recht als „Gemeinde der Übrigen“, doch sollten wir uns bewusst machen, dass diese Identität das Eingeständnis beinhaltet, dass in aller Regel die Mehrheit sich nicht auf dem richtigen Weg befindet, weswegen am Ende nur eine Minderheit („die Übrigen“) gerettet werden wird – sowohl auf die gesamte Menschheit bezogen als auch auf diejenigen, die sich zu Gottes Volk zählen:

Jes 10,22 Denn wenn auch dein Volk, Israel, wie der Sand des Meeres wäre: nur ein Überrest davon wird umkehren.

Die Milleriten haben vor 1844 die „Geborgenheit“ und Traditionen ihrer Kirchen nicht aufgegeben, um eine neue Kirche zu gründen, in der sie ebenso in „Geborgenheit“ und Traditionen leben konnten wie ihre ehemaligen Glaubensgeschwister. Sie wollten keineswegs in die alten Fehler zurückfallen, denn sie hatten gelernt, dass nur in den kostbaren Wahrheiten des Wortes Gottes Sicherheit zu finden ist. Jeder persönlich hatte für diese Lektion einen hohen Preis bezahlt. Doch damit hatten sie nur im Kleinen erlebt, was Christus unvergleichlich tiefer durchmachen musste: ein Leben der einsamen Entscheidungen, getränkt in das Unverständnis und die Vorwürfe seines sozialen Umfeldes.

Jes 53,3 Er war verachtet und von den Menschen verlassen, ein Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut, wie einer, vor dem man das Gesicht verbirgt. Er war verachtet, und wir haben ihn nicht geachtet.

Wir sind die Gemeinde Laodizea. Gottes Wort diagnostiziert uns als lau, arm, blind, elend, nackt und ausgesprochen bußbedürftig. In einem solchen Umfeld sich an der Mehrheit zu orientieren, ist ein Rezept für die Katastrophe. Doch wie oft höre ich in Diskussionen über Rechtfertigung genau solche Argumente! „Mir ist noch nie ein vollkommener Mensch begegnet.“ – „Ich habe schon viele Gläubige sterben gesehen, und die waren alle nicht vollkommen.“ – „Bruder X und Schwester Y sind so feine Christen, und die handeln / denken auch nicht anders.“ – „Wir werden bis ans Ende sündigen, das ist einfach unsere menschliche Natur.“

In den Augen dieser Geschwister ist in unseren Gemeinden im Großen und Ganzen alles in Ordnung. „Christen sind nicht besser, sie sind nur besser dran.“ Das stimmt im Sinne des Verdienstes, aber wenn Christen kein besseres Leben an den Tag legen würden als der Weltmensch, wie sollten sie dann das „Licht der Welt“ sein und ihre „guten Werke vor den Menschen leuchten“ (Mt 5,14-16)? „Wir bleiben Sünder.“ Ja, wenn damit unsere sündige Natur gemeint ist; nein, wenn unser praktisches Leben gemeint ist. Hier dünkt mich, dass wir die elementare Lehre der Bibel vergessen oder auch verdrängt haben, dass ein Leben der Nachfolge ein Leben der radikalen Abkehr von der Sünde ist. Um nur einige Texte zu nennen:

Spr 28,13 Wer seine Verbrechen zudeckt, wird keinen Erfolg haben; wer sie aber bekennt und lässt, wird Erbarmen finden.

Joh 5,14 Danach findet Jesus ihn [den Gelähmten von Bethesda] im Tempel, und er sprach zu ihm: Siehe, du bist gesund geworden. Sündige nicht mehr, damit dir nichts Ärgeres widerfahre!

Joh 8,10 Jesus aber richtete sich auf und sprach zu ihr [der Ehebrecherin]: Frau, wo sind sie? Hat niemand dich verurteilt?

11 Sie aber sprach: Niemand, Herr. Jesus aber sprach zu ihr: Auch ich verurteile dich nicht. Geh hin und sündige von jetzt an nicht mehr!

Röm 6,1 Was sollen wir nun sagen? Sollten wir in der Sünde verharren, damit die Gnade zunehme?

2 Das sei ferne! Wir, die wir der Sünde gestorben sind, wie werden wir noch in ihr leben? …

17 Gott sei Dank, dass ihr Sklaven der Sünde wart, aber von Herzen gehorsam geworden seid dem Bild der Lehre, dem ihr übergeben worden seid!

Gal 5,16 Wandelt im Geist, und ihr werdet die Begierde des Fleisches nicht erfüllen.

1Pe 4,1 Da nun Christus im Fleisch gelitten hat, so wappnet auch ihr euch mit derselben Gesinnung – denn wer im Fleisch gelitten hat, hat mit der Sünde abgeschlossen

2 um die im Fleisch noch übrige Zeit nicht mehr den Begierden der Menschen, sondern dem Willen Gottes zu leben.

1Joh 2,1 Meine Kinder, ich schreibe euch dies, damit ihr nicht sündigt; und wenn jemand sündigt – wir haben einen Beistand bei dem Vater: Jesus Christus, den Gerechten.

1Joh 3,5 Und ihr wisst, dass er geoffenbart worden ist, damit er die Sünden wegnehme; und Sünde ist nicht in ihm.

6 Jeder, der in ihm bleibt, sündigt nicht; jeder, der sündigt, hat ihn nicht gesehen noch ihn erkannt …

9 Jeder, der aus Gott geboren ist, tut nicht Sünde, denn sein Same bleibt in ihm; und er kann nicht sündigen, weil er aus Gott geboren ist.

Jak 2,10 Denn wer das ganze Gesetz hält, aber in einem strauchelt, ist aller Gebote schuldig geworden.

Die biblische Botschaft, wenn wir sie unvoreingenommen lesen, ist eindeutig: Der „Normalfall“ eines Lebens in Christus ist der Sieg über sündige Neigungen und das Wachstum in der Heiligung, und für alle „Ausnahmefälle“ des Versagens oder Zurückfallens in die alte Natur hat Gott uns in Jesus einen mitfühlenden Fürsprecher an die Seite gestellt, durch den wir Vergebung erlangen und der uns wieder aufhilft.

Ja, es stimmt, dass wohl die allermeisten von uns die Norm nur als Ausnahme erleben. Aber wenn wir das erkennen, sollten wir Jesu Rat folgen, nämlich Buße tun und um Seinen Glauben und Seine Gerechtigkeit (= ein neues Herz) bitten! Was wir nicht tun sollten, ist, die Lage dadurch zu verschlimmern, dass wir unsere Situation schönreden und sogar Gottes Wort so „auslegen“, dass die Ausnahme zur Norm wird, weil selbst der große Apostel Paulus angeblich ständig die Erfahrung machte, dass seine guten Vorsätze nicht ausführbar waren, weil er dem inneren Drang zum Bösen partout nicht widerstehen konnte. Und der große „Trost“ ist dann, dass Gott unsere vielen Sünden ja nicht ansieht, weil wir „in Christus“ bereits vollkommen sind … als würde Gottes Gnade darin bestehen, vor der Sünde einfach die Augen zu verschließen, statt ihre Macht zu brechen und sie auszurotten!

Ich fürchte, dass die Botschaft des Propheten Maleachi zu weiten Teilen unsere heutige Gemeinde beschreibt:

Mal 2,17 Ihr ermüdet den HERRN mit euren Worten. Doch ihr sagt: Womit ermüden wir ihn? – Damit dass ihr sagt: Jeder, der Böses tut, ist gut in den Augen des HERRN, und an solchen hat er Gefallen; oder: Wo ist der Gott des Gerichts?

Das ist genau die heutige evangelische Rechtfertigungstheologie: Trotz deiner bösen Taten bist du „gut in den Augen des HERRN“, weil dir Christi Vollkommenheit zugerechnet wird. Gott hat „Gefallen“ an dir, egal, wie viele Charaktermängel du hast. Weil du an Jesus glaubst, ist eine Verurteilung ausgeschlossen, und du kannst zu Recht sagen: „Wo ist der Gott des Gerichts?“ Diese Theologie „ermüdet“ Gott, weil sie Seine Gnade missversteht oder sogar missbraucht. Dies ist nicht der Glaube, der uns befähigt, dem wiederkommenden Herrn zu begegnen, und deshalb fährt der nächste Vers fort:

Mal 3,1 Siehe, ich sende meinen Boten, damit er den Weg vor mir her bereite.

Die „Wegbereitung“ besteht in Christi Versöhnungsdienst im Allerheiligsten, im „Reinigen der Söhne Levi“ und in ihrem „Läutern wie Gold und wie Silber“ (siehe Thesen 3 und 30). Und es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass Christus das Bild des Läuterns im Brief an Laodizea wiederholt:

Off 3,18 Ich rate dir, von mir im Feuer geläutertes Gold zu kaufen, damit du reich wirst …

Noch ein wichtiger Hinweis zu dieser These: Die Formulierung „sie erklären Jesus zum Stellvertreter statt zum Vorbild“ soll nicht heißen, dass Jesus nicht unser Stellvertreter ist. Das ist Er selbstverständlich. Ich habe das überspitzt und dadurch missverständlich ausgedrückt. Die Formulierung richtet sich gegen die Einstellung, dass Jesus allein unser Stellvertreter sei, aber nicht unser Vorbild, da wir nicht annähernd so rein leben könnten wie Er und es auch nicht müssten, da uns Sein Gehorsam zugerechnet werde (= evangelische Rechtfertigungslehre).

Ich möchte die in der These angesprochenen Punkte so zusammenfassen:

  • Christus ist sowohl unser Stellvertreter als auch unser Vorbild – Stellvertreter, wo wir keinen Gehorsam mehr erbringen können (das betrifft die von uns begangenen Sünden) und Vorbild, wo Er uns wieder zum Gehorsam befähigt (das betrifft unser Leben in der Nachfolge). Er ist aber dort nicht unser Stellvertreter, wo wir selbst nach der Bekehrung Seinem Vorbild nicht folgen, obwohl es uns in der Kraft des Heiligen Geistes möglich wäre. (Ergänzung: Selbst unser Gehorsam wird erst durch Seine Verdienste annehmbar.)
  • Der „elende Mensch“ in Römer 7 ist – Gott sei Dank! – nicht der Normalfall (dazu unbedingt Römer 6 und 8 studieren), sondern stellt einen (noch) unbekehrten Menschen auf dem Weg zu Christus dar, der zu der niederschmetternden Erkenntnis gelangt ist, dass er trotz bester Absichten und Anstrengungen seinen sündigen Neigungen nicht widerstehen kann und unbedingt Hilfe von außen braucht (einen Erlöser). Seine frustrierende Erfahrung fühlt sich aber auch für viele Christen so vertraut an, weil ihre Lauheit sie in einen Zustand zurückgeworfen hat, wo sie nicht (mehr) vom Heiligen Geist beherrscht werden, der allein uns durch die Gnade Jesu über alle menschlichen Schwächen erheben und den Sieg schenken kann.
  • Das Gericht im Himmel ist gute Nachricht für alle, die Jesu Ruf zu „eifriger Buße“ (= einer neuen Bekehrung) folgen, aber schlechte Nachricht für alle, die in ihrem „geistlosen“ Zustand verharren, da Jesus sie am Ende „ausspucken“ wird.

Die gute und erstaunliche Nachricht ist, dass Gott Laodizea noch immer als „Seine Gemeinde“ anerkennt. Auch 175 Jahre nach 1844 wirbt Er noch immer um uns, weil Er sich danach sehnt, uns geistlich wieder „in Brand zu stecken“. Nutzen wir doch heute diese Gnadenfrist, die schon so unglaublich lange währt, um uns die wahre Gnade anzueignen!

Tit 2,11 Denn die Gnade Gottes ist erschienen, heilbringend allen Menschen,

12 und unterweist uns, damit wir die Gottlosigkeit und die weltlichen Begierden verleugnen und besonnen und gerecht und gottesfürchtig leben in dem jetzigen Zeitlauf.

13 indem wir die glückselige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Heilandes Jesus Christus erwarten.

14 Der hat sich selbst für uns gegeben, damit er uns loskaufte von aller Gesetzlosigkeit und sich selbst ein Eigentumsvolk reinigte [die „Söhne Levi“!], das eifrig sei in guten Werken.

54. Laodizeas Grundproblem ist eine unvollständige Bekehrung, was eine unvollständige Heiligung und einen unvollständigen Sieg über Sünde zur Folge hat.

In einem Brief vom 19. April 1903 appellierte Ellen White an Dr. John H. Kellogg, den berühmten Arzt und Leiter des adventistischen Battle Creek Sanitarium:

Ich bitte dich von ganzem Herzen: Übergib dich Gott rückhaltlos, und tu es jetzt, in diesem Moment. Wenn du diese Übergabe vollziehst, wirst du ein völlig anderes Glaubensleben haben, als du seit vielen Jahren hast. Dann wirst du mit dem Apostel Paulus sagen können: „Ich achte alles für Schaden gegenüber der alles übertreffenden Erkenntnis Christi“ (Phil 3,8). „Ich habe Lust an dem Gesetz Gottes nach dem inneren Menschen“ (Röm 7,22).

Weitere Aussagen:

FE 502 Gott ist durchaus in der Lage, uns in der Welt [vor Sünde] zu bewahren, solange wir nicht von der Welt sind. Seine Liebe ist nicht unsicher und wechselhaft. Unaufhörlich wacht er über seinen Kindern mit einer Fürsorge, die unermesslich und ewig ist. Doch verlangt er unsere ungeteilte Hingabe.

3T 370f. Wie Gottes Geschenk [Jesu Menschwerdung] an den Menschen freiwillig und seine Liebe grenzenlos war, so grenzenlos ist auch sein Anspruch auf unsere Zuversicht, unseren Gehorsam, unser ganzes Herz und unsere übersprudelnde Zuneigung. Er verlangt alles, was der Mensch zu geben imstande ist. Die Hingabe unsererseits muss sich an Gottes Gabe messen; sie muss vollständig und in jeder Hinsicht lückenlos sein … Er erwartet prompten und willigen Gehorsam und wird nichts weniger akzeptieren.

1897 schrieb sie in einem Artikel „Das Leben als Christ“:

12MR 50 Das Ich muss aus unserem Innern verbannt sein, sonst kann „Christus in uns“, die Hoffnung der Herrlichkeit, nicht sichtbar werden … Die Wiedergeburt ist eine seltene Erfahrung heutzutage. Das ist der Grund für die vielen Probleme in den Kirchen [o. Gemeinden]. Viele, sehr viele, die den Namen Christi annehmen, sind ungeheiligt und unheilig. Sie sind getauft, doch sie wurden lebendig begraben. Das Ich ist nicht gestorben, darum sind sie auch nicht zu einem neuen Leben in Christus auferstanden.

Etwas später macht sie deutlich, dass es unser Ich ist (= eine unvollständige Bekehrung), das den Weg zu christlicher Vollkommenheit (= vollständige Heiligung) blockiert; doch sobald es stirbt, kann der Heilige Geist uneingeschränkt in uns wirken, um genau dies hervorzubringen. Weil ihre Beschreibung für unser Thema sehr wertvoll ist, zitiere ich etwas ausführlicher:

52 Was erwartet Gott? Vollkommenheit, nichts weniger als Vollkommenheit. Aber wenn wir vollkommen sein wollen, dürfen wir kein Vertrauen auf uns selbst setzen. Täglich müssen wir daran denken und verstehen, dass das Ich nicht vertrauenswürdig ist. Mit festem Glauben müssen wir Gottes Verheißungen ergreifen. Wir müssen um den Heiligen Geist bitten, im vollen Bewusstsein unserer Hilflosigkeit. Wenn dann der Heilige Geist wirkt, werden wir nicht uns selbst die Ehre geben. Der Heilige Geist wird das Herz unter seine gnädige Obhut nehmen und die hellen Strahlen der Sonne der Gerechtigkeit ganz auf es scheinen lassen. Durch Gottes Macht werden wir dann im Glauben bewahrt …

55 Es ist Gottes Wohlgefallen und Wille, dass die Segnungen für den Menschen vollständig und vollkommen sind. Er hat Vorsorge getroffen, dass durch den Heiligen Geist jede Schwierigkeit gelöst und jeder Bedarf gedeckt wird. Seine Absicht dahinter ist, dass der Mensch einen vollkommenen christlichen Charakter entwickelt. Gott möchte, dass wir seine Liebe und seine Versprechen betrachten, die er denen so großzügig schenkt, die keine eigenen Verdienste haben. Er möchte, dass wir uns völlig, dankbar und freudig auf die Gerechtigkeit verlassen, die uns in Christus zur Verfügung steht. Wer auf dem von Gott vorgesehenen Weg zu ihm kommt, stößt bei ihm auf offene Ohren.

„Wir alle aber schauen mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn an und werden so verwandelt in dasselbe Bild von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, wie es vom Herrn, dem Geist, geschieht.“ (2Kor 3,18) Christus anzuschauen bedeutet, sein im Wort Gottes beschriebenes Leben zu studieren. Wir müssen nach der Wahrheit graben wie nach einem verborgenen Schatz. Unser Blick muss unverwandt auf Christus gerichtet sein. Wenn wir ihn als persönlichen Erlöser annehmen, erhalten wir Freimütigkeit, vor den Gnadenthron zu kommen. Durch Anschauen werden wir verwandelt – sittlich dem Einen gleich, dessen Charakter vollkommen ist. Indem wir seine zugerechnete Gerechtigkeit empfangen, werden wir durch die umwandelnde Macht des Heiligen Geistes wie er. Das Bild Christi ist uns kostbar und vereinnahmt das ganze Wesen.

Es gibt fast unendlich viele Zitate im Geist der Weissagung zu dieser Thematik und wahrscheinlich gerade zum Thema Laodizea noch viel treffendere als die aufgeführten. Eines aber durchzieht sie alle wie ein roter Faden: Gottes Vorsorge für ein siegreiches, heiliges Leben und die Entwicklung eines vollkommenen christlichen Charakters ist überschwänglich, und die Gründe dafür, dass diese Erfahrung dennoch so rar ist, sind ausnahmslos beim Menschen zu suchen. Es sind Dinge wie die Liebe zum Ich oder zur Welt, die uns von einer vollständigen Bekehrung abhalten und so das vollmächtige, wesenverwandelnde Wirken des Geistes in uns verhindern. Das ist der Grund, dass Christus tatsächlich von außen um Einlass in unser Herz wirbt:

Off 3,20 Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hört und die Tür öffnet, so werde ich zu ihm hineingehen und das Mahl mit ihm essen und er mit mir.

53. Die Vollständigkeit einer Phase ist die Voraussetzung für die Vollständigkeit der nächsten.

Die biblischen Bilder für Bekehrung sind eindeutig: Man kann nicht halb sterben oder halb begraben werden oder halb geboren werden. Man kann nicht halb Licht sein und halb Finsternis. Man kann nicht gleichzeitig sammeln und zerstreuen (Mt 12,30). Dieselbe Quelle kann nicht süßes und bitteres Wasser hervorsprudeln (Jak 3,11). Im Gleichnis von der kostbaren Perle schildert Schwester White, dass eine „halbe Bekehrung“ letztendlich gar keine Bekehrung ist:

COL 118 Manche Menschen scheinen ständig auf der Suche nach der himmlischen Perle zu sein. Doch sie vollziehen keine komplette Übergabe ihrer schlechten Gewohnheiten. Ihr Ich stirbt nicht, damit Christus in ihnen leben kann. Darum finden sie die kostbare Perle auch nicht. Sie haben ihren unheiligen Ehrgeiz und ihre Liebe für weltliche Reize nicht überwunden. Sie nehmen nicht das Kreuz auf sich, um Christus auf dem Weg der Selbstverleugnung und des Opferbringens zu folgen. Als „fast Christen“, aber nicht „ganz Christen“, scheinen sie dem Himmelreich nahe und können doch nicht hinein. Fast, aber nicht ganz gerettet, heißt nicht fast, sondern ganz verloren. (vgl. CGl 116)

Denken wir daran:

2Mo 20,3 Du sollst keine andern Götter haben neben mir …

5 … Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott

Stellen wir uns vor, eine Ehe bricht auseinander, weil die Frau immer wieder fremdgeht. Nach einiger Zeit tut ihr das Lotterleben leid, und sie kehrt reumütig zu ihrem Mann zurück und bittet um Wiederaufnahme. Sie schaut ihm in die Augen und versichert eindringlich: „Von jetzt an möchte ich bei dir sein! Für dich werde ich alle meine Liebhaber aufgeben – außer einem. Sieben Tage in der Woche bin ich ganz dein – nur an einem einzigen Abend möchte ich mal zwei Stunden für mein altes Leben haben. Das wäre bloß 1 % der Woche; 99 % der Zeit wäre ich ausschließlich für dich da, voll und ungeteilt!“

Welcher normal empfindende Mensch würde auf so einen Vorschlag eingehen? Niemand! Und sollte Gott es? Eine Beziehung wie die Ehe ist per Definition 100 % exklusiv. Da ist kein „Verhandlungsspielraum“! Gott hat es so in den Menschen hineingelegt, weil es ein Spiegel Seines eigenen Empfindens ist. Es gibt kein Glück in einer Dreierbeziehung, selbst wenn es nur das eine Prozent wäre, das man dem Nebenbuhler widmete. Christus ist nicht bereit, das Herz mit Satan zu teilen – nicht weil Er „habgierig“ wäre, sondern weil es schlicht unmöglich ist.

Mt 6,24 Niemand kann zwei Herren dienen; denn entweder wird er den einen hassen und den anderen lieben, oder er wird einem anhängen und den anderen verachten.

Wäre Heiligung möglich, wenn die Bekehrung nicht vollständig ist? Stellen wir uns Heiligung als ein Gemälde vor, das kunstvoll auf einer weißen Leinwand entsteht. Die Leinwand ist unser Charakter, das Modell ist Christus. Der göttliche Maler ist der Heilige Geist, dem wir uns ausgeliefert und damit die Erlaubnis gegeben haben, nach Belieben dort farbige Striche aufzutragen, wo Er will. Doch im Hintergrund ist ein zweiter „Maler“, und jedes Mal, wenn der erste den 99. Pinselstrich getan hat, tritt der finstere Konkurrent hervor und setzt mit seiner eigenen Farbe und dort, wo es ihm gefällt, den Strich Nr. 100. Welcher Maler würde unter solchen Bedingungen arbeiten wollen? Und wie würde dieser „Künstlerstreit“ sich wohl auf das Gemälde auswirken? Ein einziger Strich würde verderben, was 99 Striche zuvor zierreich herausgearbeitet haben.

Es ist nicht möglich, von Sünde frei zu werden, solange wir Satan noch bewusst Einfluss in unserem Leben gewähren. Es ist nicht möglich, das Gewand des Charakters im Blut des Lammes zu waschen (Off 7,14), solange jemand daneben steht, der es immer wieder mit Dreck bewirft. Alle Türen (besonders die Hintertüren) müssen dem Bösen verschlossen werden. Das bedeutet nicht, dass wir nicht mehr fallen können oder dass alles umsonst gewesen wäre, wenn wir gefallen sind – keineswegs! Es bedeutet aber, dass, soweit Gott uns Selbsterkenntnis schenkt, wir Ihm alles ausliefern müssen. Es ist in gewisser Weise das Maximum, was wir geben können, aber zugleich das Minimum, das Gott akzeptieren kann.

Es gibt in der Tat keine exklusivere Beziehung als zwischen dem Schöpfer und Seinem Geschöpf und zwischen dem Erlöser und Seinen Erlösten. Nur unter der Bedingung der Ausschließlichkeit können wir den Weg des Heils betreten. Der Heilige Geist braucht völlige Kontrolle über uns. Dann wird Er Sein gutes Werk nicht nur beginnen, sondern auch zu einem wunderbaren Abschluss bringen!

12MR 53 Der Heilige Geist wirkt dann, wenn das Ich sich nicht einschaltet.

Jud 1,24 Dem aber, der mächtig genug ist, euch ohne Straucheln zu bewahren und euch unsträflich, mit Freuden vor das Angesicht seiner Herrlichkeit zu stellen,

25 dem allein weisen Gott, unserem Retter, gebührt Herrlichkeit und Majestät, Macht und Herrschaft jetzt und in alle Ewigkeit! Amen.

51. Zur Zeit der Reformation waren Gnade und Vergebung die große Entdeckung, heute sind es Heiligung und die Vollendung der Gemeinde seit 1844, wobei dies alles Teil eines großen Ganzen ist.

Luthers Erkenntnis einer stellvertretenden Gerechtigkeit, die dem Sünder aufgrund des Opfers Jesu zugerechnet wird, sodass er ohne Scham vor Gott treten und sich als geliebtes Kind vollkommen angenommen wissen darf, war sowohl für seinen persönlichen Glauben als auch für eine aus Angst vor einem zornigen, unberechenbaren Gott tief in abergläubische Werksgerechtigkeit verstrickte Gesellschaft ein gewaltiger Durchbruch und Grund für unbändige Freude und Erleichterung. Die kostbare Wahrheit, dass wir uns weder Gottes Liebe verdienen müssen noch von uns aus eine Versöhnung herbeizuführen brauchen, sondern dass Gott dies aus freien Stücken in Christus bereits für uns vollbracht hat und dies jedem Menschen umsonst anbietet, vergaß der Reformator sein Leben lang nicht.

Diese Wahrheiten haben bis heute nichts von ihrer Kraft verloren, und jede Generation muss sie für sich selbst entdecken und sich aneignen. Sie werden niemals veralten, doch sind sie mit den Jahren und Jahrhunderten seit der Reformation ergänzt und erweitert worden, wofür Gott unterschiedliche Personen und Bewegungen gebraucht hat, zuletzt die Gemeinde der Siebenten-Tags-Adventisten.

Ellen White hatte zu dem Punkt der fortschreitenden Erkenntnis einmal eine eindrückliche Vision (Erfahrungen und Gesichte, Kap. 10, „Das Ende der 2 300 Tage“). Sie zeigt sehr deutlich, dass es nicht ausreicht zu stehen, wo unsere Väter standen (geschweige denn die Reformatoren), wenn Gott uns inzwischen in weitere Erkenntnisse geführt hat. Jede Generation ist für das Maß an Licht verantwortlich, das ihr leuchtet, und neues Licht nicht anzunehmen oder auszuleben, hat ernste Konsequenzen.

In dieser Vision vom Februar 1845 sieht sie „einen Thron, auf dem der Vater und Sohn saßen“ (EG 45). Der Thron befindet sich im Abteil des Heiligen im himmlischen Tempel. Viele Menschen beugen sich anbetend vor dem Thron. Dann sendet Gott das helle Licht des Mitternachtsrufes aus (im Sommer 1844), doch nur die wenigsten Menschen schätzen es; selbst unter den Gläubigen widerstehen ihm viele. Darauf sieht sie, wie der Vater (eingehüllt in herrliches Licht) sich erhebt und in einem feurigen Wagen ins Allerheiligste fährt. Kurz darauf verlässt auch Jesus den Thron. Die meisten Gläubigen folgen Ihm, doch einige bemerken nichts und verharren gebeugt vor dem nun leeren Thron. Jesus weist die Gläubigen bei Ihm an, auf Ihn zu warten (S. 46). Ein Wolkenwagen bringt Ihn zum Vater, wo er Seinen abschließenden Priesterdienst tut und Sein Reich empfängt. Dann fährt die Beschreibung fort:

EG 46 (rev.) Diejenigen, die sich mit Jesus erhoben hatten, folgten ihm im Glauben in das Allerheiligste und beteten: „Vater, gib uns deinen Geist.“ Dann blies Jesus den Heiligen Geist über sie. In diesem Hauch war Licht, Macht, viel Liebe, Freude und Friede. Ich wandte mich nach der Schar um, die noch vor dem Throne lag; sie wussten nicht, dass Jesus sie verlassen hatte. Dann schien Satan bei dem Thron zu sein und zu versuchen, das Werk Gottes zu betreiben. Ich sah sie zu dem Thron aufschauen und beten: „Vater, gib uns deinen Geist.“ Satan hauchte dann einen unheiligen Einfluss über sie aus; darin waren Licht und viel Macht, aber keine süße Liebe, keine Freude und kein Friede. Satans Werk war, sie zu betrügen und Gottes Kinder irrezuführen.

Der letzte Satz lautet im Original wörtlich: „Satans Ziel war, sie unter der Täuschung zu halten und Gottes Kinder zurückzuziehen und zu täuschen.“ (Satan’s object was to keep them deceived and to draw back and deceive God’s children.) Das macht viel deutlicher, worum es geht: Die bereits Getäuschten sollten nicht merken, dass sie getäuscht sind, und Gottes Kinder, die Jesus im Glauben ins Allerheiligste gefolgt waren, sollten wieder zurückgezogen und unter dieselbe Täuschung gebracht werden. Die erste Veröffentlichung dieser Version im Day-Star vom 14. März 1846 enthält zusätzlich folgenden Schlusssatz von Ellen White (damals noch Harmon):

DS, 14.3.1846 Ich sah, wie einer nach dem anderen die Gruppe verließ, die zu Jesus im Allerheiligsten betete; sie schlossen sich den Menschen vor dem Thron an und empfingen im selben Moment den unheiligen Einfluss Satans.

Was Gott uns in diesem Gesicht offenbart, ist ziemlich ernüchternd, ja schockierend. Menschen, die vermeintlich zu Gott beten, deren Gebete aber von Satan „erhört“ werden, der unbemerkt in die Rolle des Vaters geschlüpft ist und „seinen Anbetern“ ganz ähnliche Erfahrungen zukommen lässt wie den treuen Gläubigen – eine falsche Geistausgießung, die jedoch ohne wahre Liebe, Freude und Frieden ist. Die Deutung auf den gefallenen Protestantismus, der die Verkündigung der dreifachen Engelsbotschaft abgelehnt hat, ist offensichtlich, und wir sehen die Erfüllung einer scheinbaren Geistausgießung in der von Amerika ausgehenden, weltweiten charismatischen Bewegung.

Doch der Teil, der für uns von schicksalhafter Bedeutung ist, sind die letzten zwei Sätze, die Satans Plan (und Erfolg!) schildern, selbst die Anbeter im Allerheiligsten (Siebenten-Tags-Adventisten) wieder ins Heilige zurückzuziehen, wo sie mit den übrigen Christen vereint und mit einem „unheiligen Geist“ infiziert werden. An dieser Stelle sehe ich mich zu einem Schluss gezwungen, den nicht wenige Adventisten (auch konservative) als anstößig empfinden könnten: Der Rückfall vom Allerheiligsten ins Heilige zeigt sich in der Adventgemeinde nicht nur in diversen Einflüssen evangelischen und charismatischen Ursprungs, sondern auch in der Verneinung und Bekämpfung dessen, wofür der Dienst im Allerheiligsten eigentlich steht: Vollendung der Heiligung, Vervollkommnung des Charakters, Versiegelung für die Ewigkeit.

Für unsere Pioniere war lange Zeit selbstverständlich, dass Sinn und Zweck der Heiligung ist, durch Gottes Gnade einen christusähnlichen Charakter ohne Makel zu formen. Sie standen im Glauben vor dem Thron Gottes im Allerheiligsten – der Bundeslade, die Sein heiliges, unveränderliches Gesetz enthält – und verstanden, dass dieses Gesetz nur vollkommene Liebe und vollkommene Gerechtigkeit gutheißen kann. Als sie durch die Offenbarungen des Geistes der Weissagung die Zusammenhänge des großen Kampfes besser verstanden, wurde ihnen klar, dass die bestehende Rebellion und Feindschaft gegen Gottes Autorität nur dann aus dem Universum ausgerottet werden könnte, wenn der gefallene Mensch wieder zu vollständiger Loyalität dem ewigen Gesetz gegenüber zurückgeführt würde.

Doch waren sie noch auf dem Weg und rangen um das richtige Verständnis und das praktische Ausleben dieser Überzeugung. Deshalb sandte Gott u. a. die Botschaft von 1888, um ihnen zu erklären, dass der Weg dorthin gänzlich über Christus führt, dass Seine Gerechtigkeit die Anforderungen des Gesetzes vollkommen erfüllt und dass diese Gerechtigkeit ihnen geschenkt wird (zugerechnet und verliehen), wenn sie in Demut, aufrichtiger Reue und kindlichem Vertrauen darum bitten und wenn ihnen diese eine, herrliche Perle – Christus, der Sohn Gottes – so wertvoll geworden ist, dass sie bereit sind, alles und jedes (jede Sünde) dafür aufzugeben.

Von diesem Verständnis ist heute unter uns nicht mehr viel zu finden. Der Widersacher hat es geschafft, viele wertvolle Wahrheiten, die Gott der Adventbewegung anvertraut hat, in Vergessenheit geraten zu lassen – und das, obwohl wir den Geist der Weissagung haben, der so unendlich viel und tief und eindringlich zum Volk der Übrigen gesprochen hat und es durch Ellen Whites Schriften, die doch jedermann ungehindert zugänglich sind, noch immer tut.

Ich kann es nur jedem ans Herz legen, im Großen Kampf oder Vom Schatten zum Licht die Kapitel 24 („Im Allerheiligsten“) und 28 („Das Untersuchungsgericht“) sorgfältig zu studieren und genau darauf zu achten,

  • welchen Zweck Jesu Dienst im Allerheiligsten hat und
  • wonach im Untersuchungsgericht entschieden wird, wer ewiges Leben erhält.

Würden wir dies alle tun, würden die größten Mythen über Rechtfertigung aus Glauben in der Adventgemeinde wirksam aufgelöst. Wir würden erkennen, dass wir nackt sind, weil die einzige Gerechtigkeit, die vor Gott zählt, vollkommene Gerechtigkeit ist (völlige Reinheit innen und außen), und dass Christus uns alles bedeutet, weil Er nicht nur unser Versagen mit Seinem Blut bedeckt, sondern auch unsere Nacktheit mit Seiner Vollkommenheit bekleidet, indem Er uns ein neues Herz (neue Gedanken und Gefühle) und daraus erwachsend einen neuen Charakter (neue Gewohnheiten und Wesenszüge) schenkt.

Ich fühle mich sehr mangelhaft im Erklären dieser Dinge und noch mehr in ihrem Ausleben. Ich bin selbst ein Suchender, sich Vortastender und in jeder Hinsicht Lernender. Ich schreibe diese Thesen samt Kommentar, weil mein Gewissen mich drängt und hier offenbar eine Not herrscht, da nicht viele sich öffentlich zu diesen Wahrheiten bekennen. Aber ich möchte auf drei weit bessere Quellen hinweisen:

  • die Bibel
  • den Geist der Weissagung
  • die Botschafter von 1888 (E. J. Waggoner, A. T. Jones, aber auch W. W. Prescott und S. N. Haskell) und ihre geistlichen Nachfahren wie A. G. Daniells, Taylor G. Bunch, Joe Crews, Donald K. Short, Robert J. Wieland und gegenwärtig Ron Duffield, Camron Schofield, Dennis Priebe, Margaret Davis und viele mehr)

Jeder, der die Wahrheit liebt, wird sie hier finden. Bitte die Empfehlungen im dritten Punkt auf Beröanisch studieren, d. h. alles unter Gebet und prüfend lesen! Menschen können irren. Allein Gott und Sein Wort sind unfehlbar.

49. Das adventistische Verständnis vom Erlösungswerk Jesu, wie es auch 1888 verkündigt wurde, baut zwar auf den Erkenntnissen der Reformation auf, geht aber darüber hinaus.

Wir sagen manchmal, dass alle unsere Lehren Christus zum Mittelpunkt haben müssen – und das lässt sich nur von Herzen bejahen. Wenn aber jede Lehre auf ihre Weise etwas von Christus und Seinem Wesen beschreibt, der das Abbild des unsichtbaren Gottes ist (Kol 1,15), dann verhilft jede wahre Lehre auch zu einer tieferen Gotteserkenntnis. Und da Erlösung die Wiederherstellung des Bildes Gottes im gefallenen Menschen ist, bringt eine bessere Gotteserkenntnis auch ein besseres Erlösungsverständnis mit sich.

Schon aus dieser Überlegung heraus wird klar, dass Gottes Endzeitvolk mit dem weitreichendsten Lehrgebäude aller Zeitalter einschließlich einer umfassenden Prophetieauslegung ein weitaus klareres und detaillierteres Bild von Gott, Seinem Wesen, Seinem Gesetz, den Streitpunkten im großen Kampf und dem Erlösungswerk besitzen muss als die Reformatoren zu ihrer Zeit. Allein die Heiligtumslehre erlaubt uns schon tiefere Einblicke in die Art und Weise, wie unser Herr Menschen für die Ewigkeit rettet. Dazu im Folgenden mehr.

48. Weitere Anzeichen dieses Einflusses sind eine Schwerpunktverschiebung des Heilsgeschehens weg vom Heiligtum hin zu Golgatha, die Kehrtwende im Verständnis der menschlichen Natur Jesu von gefallen zu ungefallen sowie die Umdeklarierung des Untersuchungsgerichtes zum Vorwiederkunftsgericht.

Wer die geistliche Entwicklung der Adventgemeinde in den letzten 60 Jahren verstehen will, sollte unbedingt die Geschichte des Buches Questions on Doctrine studieren. Dieses Buch war ein ganz wesentlicher Faktor für die fatale Annäherung adventistischer Theologie an den gefallenen Protestantismus, mit den in dieser These beschriebenen (und weiteren) Symptomen.

Natürlich ist das große Opfer Jesu auf Golgatha die Grundlage von allem! Trotzdem sollen wir „im Glauben“ unserem Erlöser in seinem Dienst im Himmel „folgen“, wie Ellen White es ausdrückt und wie die nächsten Thesen noch klarer darstellen werden. Jede Zeit hat ihre „gegenwärtige Wahrheit“, die die vorigen Wahrheiten nicht abschwächt oder ablöst, sondern auf ihnen aufbaut und sie vertieft. In Heiligtumssprache: Christi Vermittlung im Heiligen (Heiligung) baut auf Golgatha (Vergebung) auf, und der große Versöhnungstag im Allerheiligsten (Vollendung) baut auf das Heilige (Heiligung) auf. Obwohl alle Elemente wichtig sind, sollte unser Hauptaugenmerk auf der Phase liegen, die für unsere Zeit gerade aktuell ist, sprich: das Allerheiligste und das Untersuchungsgericht (Vollendung / Vervollkommnung).

Warum erwähne ich die Umbenennung des Untersuchungsgerichtes zum „Vorwiederkunftsgericht“? Es ist nur ein Detail, fügt sich aber ins Gesamtbild ein: Der Begriff „Untersuchung“ kommt schnell etwas unangenehm und persönlich daher – er klingt nach Verantwortung, Rechenschaft und könnte ein schlechtes Gewissen oder Beklemmung hervorrufen. „Vorwiederkunft“ dagegen ist als reiner Zeitbegriff angenehm sachlich und mischt sich nicht in mein persönliches Leben ein. Er passt viel besser zu einem Verständnis von Gericht, wo nicht etwa mein Leben und Charakter „untersucht“ werden, sondern einfach festgestellt wird, dass mir durch den Glauben der vollkommene Gehorsam Christi zugerechnet wird (eine faktische, nichtsubjektive Feststellung), da ich aufgrund meiner gefallenen Natur sowieso nicht zu echtem Gehorsam fähig bin.

Womit sich außerdem die Frage geklärt hat, welche Natur Jesus als Mensch besaß: natürlich die ungefallene – sonst wäre er ja nicht sündlos gewesen (generell wird eingeräumt, dass er zumindest unsere körperlichen Schwächen teilte). Um ohne Sünde leben zu können, brauchte Jesus die ungefallene Natur Adams, und da wir nach der Bekehrung unsere gefallene Natur behalten, begehen wir auch bis zum Ende Sünden und können gar nicht anders. Weil Gott das wusste, sandte er Jesus, damit sein perfekter Gehorsam und seine tadellose Gerechtigkeit uns zugerechnet werden können. Damit ist das Problem gelöst, unser Heil gesichert, und wir bleiben von der unerträglichen Last verschont, so leben zu müssen, wie Jesus gelebt hat, und so zu überwinden, wie er überwunden hat. Die ganze Sache mit der Charaktervollkommenheit ist damit ebenfalls als Irrlehre entlarvt, und wir dürfen uns erleichtert auf das sanfte Ruhekissen ungestörter „Heilsgewissheit“ zurücklehnen …

Die ganze Sichtweise und ihre Elemente sind für sich betrachtet durchaus schlüssig – zumindest solange wir bestimmte Wahrheiten ausblenden, wie zum Beispiel:

Off 3,5 Wer überwindet, der wird mit weißen Kleidern bekleidet werden; und ich will seinen Namen nicht auslöschen aus dem Buch des Lebens …

Off 7,9 Nach diesem sah ich: und siehe, eine große Volksmenge, die niemand zählen konnte, aus jeder Nation und aus Stämmen und Völkern und Sprachen, stand vor dem Thron und vor dem Lamm, bekleidet mit weißen Gewändern und Palmen in ihren Händen …

14 … sie haben ihre Gewänder gewaschen und sie weiß gemacht im Blut des Lammes.

Röm 2,13 Es sind nicht die Hörer des Gesetzes gerecht vor Gott, sondern die Täter des Gesetzes werden gerechtfertigt werden.

Mt 12,36 Ich sage euch aber, dass die Menschen von jedem unnützen Wort, das sie reden werden, Rechenschaft geben müssen am Tag des Gerichts;

37 denn aus deinen Worten wirst du gerechtfertigt werden, und aus deinen Worten wirst du verdammt werden.

3T 370 Gott wägt unseren Charakter, unser Verhalten und unsere Beweggründe auf den Waagschalen des Heiligtums.

Deswegen können diese Thesen gar nicht anders als stören. Sie müssen es. Dennoch ist ihr eigentliches Ziel ein heilsames, froh machendes, erlösendes! Und ich hoffe, dies kommt trotz der nötigen Unverblümtheit auch zum Ausdruck.

47. Diese Behauptung ist vielmehr symptomatisch dafür, dass die Gemeinde unter den Einfluss der Kirchen Babylons geraten ist und die Botschaft von 1888 im Rückblick durch die Brille evangelischer Rechtfertigungslehre umdeutet.

Wenn die Botschaft von 1888 angenommen worden ist, wie heute von der Mehrheit unserer Theologen, Historiker und Leiter beteuert wird, darf sie natürlich nichts enthalten, was wir heute nicht lehren und leben. Sie muss unserem gängigen Rechtfertigungsverständnis entsprechen, und das ist nun einmal evangelisch gelagert, d. h., die zugesprochene (forensische) Gerechtigkeit Christi ist allein entscheidend für unser Heil und ebenso für unseren Freispruch im Gericht. Adventisten mögen deutlich mehr Gewicht auf Heiligung legen als evangelische Christen, doch solange das Maß der Heiligung beliebig ist (sie muss nicht „vollendet“ werden) und der Charakter kein Kriterium im Untersuchungsgericht darstellt, bleibt ihre Rechtfertigungslehre im Grundsatz auf derselben Linie. Und demzufolge kann auch die (so nannte Ellen White sie) „äußerst kostbare Botschaft“ von Jones und Waggoner in Minneapolis nichts anderes gewesen sein als Erlösung durch zugesprochene Gerechtigkeit.

Die nächste Konsequenz aus diesem Geschichtsverständnis ist, dass unser geistlicher Zustand bzw. unsere Rechtfertigung nichts mit der Wiederkunft zu tun haben darf. Es darf keinen kausalen Zusammenhang nach dem Schema „A führt zu B“ – „Rechtfertigung führt zur Wiederkunft“ – geben, weil sonst die seit 130 Jahren ausbleibende Wiederkunft die Beteuerung unseres Gerechtfertigtseins gründlich ad absurdum führen würde. Also muss der Zeitpunkt der Wiederkunft vom Faktor Mensch und unserer geistlichen Verfassung weitgehend abgekoppelt und stattdessen der göttlichen Souveränität überantwortet werden.

Woraus weiterhin eine bestimmte Sichtweise vom Dienst im Allerheiligsten seit 1844 folgt, denn Jesu Dienst darf dann ebenso wenig mit unserem geistlichen Zustand zu tun haben, da dieser ja grundsätzlich in Ordnung ist, aufgrund unserer Annahme der 1888 verkündeten Botschaft der Rechtfertigung aus Glauben. Es findet z. B. kein notwendiger Läuterungsprozess statt, da wir aufgrund der zugerechneten Gerechtigkeit für die Wiederkunft längst bereit sind und eigentlich nur noch warten – bzw. das Evangelium in alle Welt tragen müssen (dieser letzte Punkt wird dann schon zugestanden, weil er scheinbar unabhängig von unserer Rechtfertigung ist).

Auch wenn die letzten Absätze vielleicht etwas ironisch klingen, machen sie mich tatsächlich tief traurig. Wir leben bestenfalls in großer Unkenntnis, schlimmstenfalls in willigem Selbstbetrug. Und wir lesen eindeutig zu wenig oder zu oberflächlich den Geist der Weissagung, sonst könnten solche Irrtümer unmöglich so reichen Nährboden finden.