36. Beiden gemeinsam ist die mangelnde Liebe zu Gott, die sich in mangelnder Bereitschaft zeigt, „Christus in mir leben“ zu lassen (Gal 2,20).

Gal 2,20 Ich bin mit Christus gekreuzigt; und nun lebe ich, aber nicht mehr ich selbst, sondern Christus lebt in mir. Was ich aber jetzt im Fleisch lebe, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich hingegeben hat.

Ein wunderbares Beispiel dafür, wie die Liebe zu Gott in uns wachsen und uns verwandeln wird, wenn wir ihr Raum geben, ist der Jünger Johannes. Im Wirken der Apostel heißt es über ihn:

AA 557 In den Jahren, wo er eng mit Christus zusammen war, war er oft vom Heiland gewarnt und zur Vorsicht gemahnt worden, und diese Zurechtweisungen hatte er angenommen. Als ihm der Charakter des Gottessohnes offenbar wurde, erkannte Johannes betroffen seine eigenen Mängel. Tag für Tag sah er im Gegensatz zu seinem eigenen heftigen Wesen die Behutsamkeit und Langmut Jesu und hörte seine Lehren über Demut und Geduld. Tag für Tag wurde sein Herz zu Christus hingezogen, bis er sein Ich vor Liebe zu seinem Meister aus dem Auge verloren hatte. Er bewunderte die Kraft und das Feingefühl, die Majestät und Sanftmut, die Stärke und Geduld, die er im täglichen Leben des Sohnes Gottes wahrnahm. Sein empfindliches, ehrgeiziges Wesen lieferte er der umgestaltenden Macht Christi aus, und die göttliche Liebe verwandelte seinen Charakter. (vgl. WA 555)

Gleich aus welchem theologischen Lager wir uns Christus nähern – Erlösung kann nur geschehen, wenn wir bereit sind, wie Paulus das angeborene, sündige Ich zu „kreuzigen“ und Jesus zu unserem Meister und „neuen Ich“ zu erklären. Aus eigener Kraft ist dies unmöglich. Doch wenn wir zulassen, dass der Heilige Geist uns das bewundernswerte Wesen des Sohnes Gottes in lebendigen Farben vor Augen malt, wird eine himmlische, gottgeschenkte Liebe in uns hineingepflanzt, die so wächst und erstarkt, dass wir wie einst der Jünger Johannes unser altes Ich völlig „aus dem Auge verlieren“ und im Anschauen unseres Heilandes gänzlich umgewandelt werden. So geschieht unsere geistliche Vervollkommnung.

35. Wesentliche Gründe dafür sind Sündenliebe und Stolz, wobei Sündenliebe zum Missbrauch der Gnade führt und Stolz zu Gesetzeswerken.

Ein Prediger verfasste einmal einen Artikel mit dem Titel: „Konservativ, liberal oder gehorsam?“ Dahinter steckte die etwas provozierende Anspielung, dass das wahre Kriterium eines Christen nicht sein liberales oder konservatives Selbstverständnis ist, sondern ein Leben nach Gottes Geboten. Ist das nicht der Fall, ist es für Gott belanglos, ob wir liberale Sünder oder konservative Sünder sind, denn dann spiegeln diese Begriffe nur eine Vorliebe für bestimmte Sünden wider – z. B. auf liberaler Seite die „Freiheit“, sich über Regeln hinwegzusetzen und selbstbestimmt die Welt zu genießen, oder auf konservativer Seite die „Bewahrung“ der theologischen Wahrheit als Mittel der Abgrenzung und Selbstüberhebung.

Jesus begegneten diese Lebensstile in Gestalt der Sadduzäer und Pharisäer. Obwohl beide Gruppen ziemlich verfeindet waren, einte sie am Ende erstaunlicherweise die noch größere Abneigung gegen den Messias. Prophetisch betrachtet bilden diese Gruppen die zwei Säulen „Babylons“. Ellen White schreibt über das Papsttum:

Der große Konflikt, 480f. Es hat sich auf zwei Menschengruppen eingestellt, und diese umfassen beinahe die ganze Erde: diejenigen, die durch ihre eigenen Verdienste gerettet werden möchten, und jene, die in ihren Sünden gerettet werden wollen. Hier liegt das Geheimnis seiner Macht.

Es versteht sich von selbst, dass eine laue Gemeinde, die zwar theologisch sehr wesentliche Wahrheiten hochhält, praktisch aber der Gesinnung Babylons nahesteht (als „Sadduzäer“ oder „Pharisäer“), erst dann vollmächtig und glaubwürdig aus Babylon herausrufen kann, wenn sie selbst „eifrig Buße getan“ hat (Off 3,19).

34. Obwohl die Adventgemeinde den dreigeteilten Dienst Jesu als Opfer und Hohepriester offiziell lehrt, hat sie die praktische Bedeutung dieses Dienstes bis heute nicht in der nötigen Tiefe erkannt und angenommen.

Die Wahrheit dieser Behauptung lässt sich einfach zeigen: Christus im Allerheiligsten wirkt für unsere Vorbereitung auf die Wiederkunft (siehe These 30). Hätten wir diesen Dienst wirklich „erkannt und angenommen“, dann hätte er sich an uns erfüllt. Wir wären vorbereitet worden, und Christus wäre schon lange wiedergekommen, um uns zu sich zu nehmen. Zahlreiche Aussagen im Geist der Weissagung aus ganz unterschiedlichen Jahren bestätigen diese traurige Wahrheit. Wir mögen sie leugnen oder wegtheologisieren, doch der simple Fakt, dass wir 175 Jahre nach 1844 noch immer auf der Erde sind, zeugt gegen uns.

33. Das Allerheiligste steht für Vollendung und Gericht; hier erfährt der Gläubige volle Reife und Versiegelung. Dieser Punkt ist evangelischen Christen fremd.

… und mittlerweile auch fast allen Adventisten. Wie aber in These 30 und 32 ausgeführt, ist „volle Reife“ bzw. Charaktervollkommenheit der eigentliche Sinn und Zweck von Christi Dienst seit 1844. Damit bereitet Er seine Gemeinde darauf vor, Ihm im verherrlichten Zustand in den Wolken des Himmels zu begegnen und die ewigen Wohnungen der Erlösten im Neuen Jerusalem zu beziehen.

32. Das Heilige steht für die tägliche Lebensgemeinschaft mit Jesus; hier erfährt der Gläubige Veränderung und Wachstum. Diesen Punkt teilen evangelische Christen nur teilweise mit Adventisten.

Ich kenne keinen Christen, der behaupten würde, ein Mensch könne nach seiner Bekehrung komplett so weiterleben wie bisher. Insofern würde wohl jeder zustimmen, dass der christliche Glaube „Veränderung und Wachstum“ mit sich bringt. Die Frage ist nur, in welchem Maße. An diesem Punkt scheiden sich auch in der Adventgemeinde die Geister. Ob jemand liberal oder konservativ gesinnt ist, zeigt sich üblicherweise daran, wie viel Gewicht auf Heiligung und Gehorsam gelegt wird. Darüber lässt sich dann im Gemeindeleben „wunderbar“ und ausgiebig streiten. „Perfektionisten“ wollen aber beide Gruppen nicht sein, d. h. die Option vollständiger Heiligung und tadellosen Gehorsams scheidet aus und bleibt einigen einsamen Rufern in der Wüste vorbehalten.

Traurigerweise erinnert diese Situation an die Zeit Jesu, als sich Sadduzäer und Pharisäer zwar spinnefeind gegenüberstanden, in der Konfrontation mit Christus und Seinen Lehren am Ende aber beide gleicherweise auf der falschen Seite der Frage standen. Ihre „theologischen Diskussionen“ entpuppten sich als sinn- und fruchtlos, weil sie an den entscheidenden Punkten permanent vorbeigegangen waren: Hänge ich an Christus so vollständig wie eine Rebe am Weinstock? Wenn ja, gehört Sein Leben mir, fließt in mich hinein, bewirkt immer mehr Frucht und bringt sie zur Reife (ein Bild für Vollkommenheit). Wenn nein, bin ich ein toter Ast, verdorre immer mehr und bin eines Tages auch reif – doch leider für das Gericht. Also, jeder wird am Ende auf die eine oder andere Weise „reif“ oder „vollkommen“ sein (das griech. Wort teleios bedeutet beides). Es gibt nur diese zwei Möglichkeiten, wie Jesus Johannes auf Patmos symbolisch gezeigt hat – und nicht zufällig steht diese Schilderung direkt nach der Dreiengelbotschaft, die laut Ellen White den Zweck hat, die Gemeinde zu vervollkommnen:

Off 14,14 Und ich sah: und siehe, eine weiße Wolke, und auf der Wolke saß einer gleich einem Menschensohn, der auf seinem Haupt einen goldenen Siegeskranz und in seiner Hand eine scharfe Sichel hatte.

15 Und ein anderer Engel kam aus dem Tempel hervor und rief dem, der auf der Wolke saß, mit lauter Stimme zu: Schicke deine Sichel und ernte! Denn die Stunde des Erntens ist gekommen, denn die Ernte der Erde ist überreif geworden.

16 Und der auf der Wolke saß, warf seine Sichel auf die Erde, und die Erde wurde abgeerntet. [Christus erntet die Gläubigen und sammelt sie in seine Scheune; Mt 13,30.]

17 Und ein anderer Engel kam aus dem Tempel im Himmel hervor, und auch er hatte eine scharfe Sichel.

18 Und ein anderer Engel, der Macht über das Feuer hatte, kam aus dem Altar hervor, und er rief dem, der die scharfe Sichel hatte, mit lauter Stimme zu und sprach: Schicke deine scharfe Sichel und lies die Trauben des Weinstocks der Erde! Denn seine Beeren sind reif geworden.

19 Und der Engel warf seine Sichel auf die Erde und las den Weinstock der Erde ab und warf die Trauben in die große Kelter des Grimmes Gottes. [Ein Engel erntet die Ungläubigen, die Strafe und Vernichtung erfahren.]

31. Der Vorhof steht für Jesu Opfer am Kreuz; hier erfährt der Gläubige Vergebung und Wiedergeburt. Diesen Punkt teilen evangelische Christen voll mit Adventisten.

Ich bin mir nicht sicher, ob der letzte Satz stimmt. Auf den ersten Blick ja, auf den zweiten nein. Im weitesten Sinne schließt Gottes Vergebung völlige Wiederherstellung mit ein, was aber „evangelischen Christen fremd“ ist (siehe These 33). Ebenso beweist sich die Wiedergeburt in einem neuen Leben des Gehorsams („Jeder, der aus Gott geboren ist, tut nicht Sünde“; 1Joh 3,9), womit evangelische Christen mit ihrem gespaltenen Verhältnis zum Gesetz ebenfalls Bauchschmerzen hätten. Aber zumindest, wenn man Vergebung auf die Tatsache der erlassenen Schuld und des neuen, zugerechneten Status als Kind Gottes beschränkt, bestünde hier volle Gemeinsamkeit zwischen Evangelischen und Adventisten.

30. Die drei Abteile des Heiligtums – Vorhof, Heiliges und Allerheiligstes – stellen die drei Phasen des Erlösungsplanes dar.

Wenn der Heiligtumsdienst eine Veranschaulichung des Erlösungsplanes ist, mit Christus als Sühneopfer und Hohepriester im Mittelpunkt, dann ist es selbstredend, dass die Kenntnis oder Unkenntnis über die damit verbundene Symbolik einen großen Unterschied im Verständnis davon macht, wie ein Mensch gerettet wird. Das richtige Verständnis ist aber von entscheidender Bedeutung! Nicht umsonst hat Gott Mose darum alle mit dem alttestamentlichen Heiligtum verbundenen Maße, Materialien, Geräte, Ordnungen und Zeremonien bis ins Detail geschildert.

Ohne das irdische Heiligtum wüssten wir nichts von den entsprechenden Vorgängen im Himmel und dem Wechsel von Jesu Dienst am 22. Oktober 1844. Der himmlische Tempel war der entscheidende Schlüssel zur Erklärung der großen Enttäuschung und für die nachfolgende Entstehung der Siebenten-Tags-Adventisten mit ihrem ausgewogenen Verständnis von Gesetz und Evangelium sowie einer klaren Sicht vom großen Kampf um den Charakter Gottes und seiner prophetischen Gipfelung in der endzeitlichen Sabbatfrage. Nirgendwo sonst in der Christenheit sind diese biblischen Zusammenhänge in der Breite und Deutlichkeit zu finden wie in der Adventgemeinde.

Es ist durchaus nachvollziehbar, dass evangelische Christen in ihrer Rechtfertigungstheologie im Vorhof stehenbleiben, weil sie vom Heiligen und Allerheiligsten im Himmel nichts wissen. Adventisten haben aber allen Grund, hier im besten Sinne „progressiv“ zu sein und ein vollständiges Evangelium zu verkündigen, das das ganze Spektrum von den Anfängen des Glaubens bis zu seiner Vollendung umfasst (Heb 12,2). Diese neuen und erweiterten Einsichten lehrte Gott die Adventgläubigen nach der Enttäuschung, und diese Einsichten, die nun der ganzen Welt verkündigt werden sollten, waren nichts anderes als die dreifache Engelsbotschaft.

So beschreibt der Große Kampf die Situation der Adventgläubigen kurz nach dem 22. Oktober 1844:

GC 424f. [Sie] waren noch nicht bereit, ihrem Herrn zu begegnen. Es musste noch ein Werk der Vorbereitung für sie getan werden. Sie sollten Licht erhalten, das ihre Aufmerksamkeit auf Gottes Tempel im Himmel lenkte, und wenn sie im Glauben ihrem Hohepriester in seinem Dienst dorthin folgten, würden neue Aufgaben offenbar werden. Die Gemeinde sollte noch eine weitere Botschaft mit Warnungen und Anweisungen erhalten …

Während das Untersuchungsgericht im Himmel stattfindet und die Sünden der reuigen Gläubigen vom Heiligtum entfernt werden, muss unter Gottes Volk auf der Erde ein besonderes Werk der Reinigung geschehen, ein Ablegen von Sünde. Dieses Werk wird in den Botschaften aus Offenbarung 14 noch klarer dargestellt.

Wenn dieses Werk getan ist, werden Christi Nachfolger für sein Erscheinen bereit sein. „Dann wird die Opfergabe Judas und Jerusalems dem HERRN angenehm sein, wie in den Tagen der Vorzeit und wie in den Jahren der Vergangenheit.“ (Mal 3,4) Dann wird unser Herr bei seinem Kommen eine Gemeinde zu sich nehmen, „die herrlich sei, sodass sie weder Flecken noch Runzeln noch etwas Ähnliches habe“ (Eph 5,27). (vgl. GK 426f.)

Ellen White sagt hier deutlich, dass Jesu Dienst im Allerheiligsten den Zweck hat, die Gemeinde auf seine Wiederkunft „vorzubereiten“. Diese geschieht durch ihre „Reinigung“ parallel zur Reinigung des Heiligtums im Himmel. Ihre Sünden müssen „abgelegt“ werden, denn die Gläubigen sind erst dann für Christi Erscheinen bereit, wenn sie „weder Flecken noch Runzeln“ haben, was nichts anderes bedeutet als sittliche Vollkommenheit. Dies, so sagt sie, ist der Inhalt der Botschaften aus Offenbarung 14.

Die dreifache Engelsbotschaft ist somit eine Erläuterung dessen, was Gott durch den großen Versöhnungstag für jeden Gläubigen tun und wie Er die Weltgeschichte zum Abschluss bringen will: durch die Vervollkommnung der Gemeinde und ihr weltweites Zeugnis über „Christus unsere Gerechtigkeit“ in der Fülle des Spätregens. Das entscheidende Merkmal von Gottes Gemeinde in dieser letzten Zeit ist ihr „Glaube“ und ihr „Gehorsam“ (Off 14,12) – aber „vollendeter“ Glaube (1Ths 3,10; 2Ths 1,11; Jak 2,22) und „vollkommener“ Gehorsam = bedingungslose Liebe (Mt 5,48). Es ist „vollendete Heiligung“ (2Kor 7,1), denn das Kleid von Jesu Braut – ein Bild für den Charakter – wird bei seinem Kommen „fein, glänzend, rein“ sein (Off 19,8). Das zu glauben, zu leben und zu verkündigen, ist wahrer „Adventismus“, weil es den „Advent“ – das Kommen Jesu – anbahnt und auf ihn hinwirkt. Es ist die „Beschleunigung“, von der 2. Petrus 3,12 spricht und die direkt mit dem „heiligen Wandel und der Gottseligkeit“ in Vers 11 zu tun hat:

2Pe 3,11 Da dies alles so aufgelöst wird, was für Leute müsst ihr dann sein in heiligem Wandel und Gottseligkeit,

12 indem ihr die Ankunft des Tages Gottes erwartet und beschleunigt, um dessentwillen die Himmel in Feuer geraten und aufgelöst und die Elemente im Brand zerschmelzen werden!

27. So entstand in der evangelischen Christenheit ein einseitiges Erlösungsverständnis, das Rechtfertigung als Erlösung an sich verstand statt als einen Teil der Erlösung.

Luther stand mit beiden Beinen auf dem Boden. Er hatte einen sehr praktischen Begriff von Glauben und hat die wichtige Bedeutung von Nachfolge und Gehorsam im Leben des Christen durchaus erkannt und verkündigt. Auch hat sich sein theologisches Verständnis der Erlösung im Laufe seines Lebens gewandelt, indem er sich von einer rein forensischen Rechtfertigung („Gerechtsprechung“) näher zu einer effektiven Rechtfertigung („Gerechtmachung“ = Heiligung) hinbewegte. Sein jahrelanges Ringen um die rechte Einordnung des Jakobus-Briefes und letztlich „Versöhnung“ mit diesem Teil des Neuen Testamentes sind Ausdruck dieser Entwicklung.

Nach Luthers Tod gab es nicht wenig Streit um die wahre „evangelische Lehre“, und durchgesetzt hat sich die Strömung der „Gnesio-Lutheraner“, die sein Schrifttum selektiv und einseitig im Sinne einer streng forensischen Rechtfertigung gebrauchten. Dieses Erbe zeigt sich heute in weiten Teilen der evangelischen Christenheit und ist ein wesentlicher Grund für die vorherrschende Abneigung gegen das Gesetz Gottes und den Glaubensgehorsam.

Wenn man tiefer darüber nachdenkt, ist es eigentlich erstaunlich und traurig, dass so viele aufrichtige und gutmeinende Christen fest davon überzeugt sind, die Misere des gefallenen Menschen ließe sich allein durch „virtuelle Gerechtigkeit“ lösen, allein durch eine Art himmlische Kontobewegung zugunsten der Schuldigen, allein durch ein göttliches „Übersehen“ unserer Sündigkeit, weil sie durch Jesu Blut bedeckt sei. In diesem Sinne werden die Soli der Reformation ja gerne gebraucht – als könnten wir durch etwas erlöst werden, das rein außerhalb von uns stattfindet, wo doch die Sünde unser Inneres wie ein böser Krebs komplett befallen hat!

Ich sage dies in keiner Weise, um den Gedanken der Stellvertretung Jesu als unser Sühneopfer irgendwie anzuzweifeln oder zu schmälern – er ist eine der zwei Säulen der Erlösung –, sondern um die äußerste Sinnlosigkeit aufzuzeigen, würde es allein dabei bleiben! Was könnte der Vorstellung einer „externen Erlösung“ radikaler widersprechen als das Bild, das Jesus im nächtlichen Gespräch mit Nikodemus gebrauchte:

Joh 3,3 Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen.

„In Christus“ zu sein ist weit mehr, als seine Stellvertretung in Anspruch zu nehmen:

2Kor 5,17 Darum: Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen; siehe, es ist alles neu geworden!

Schon der alttestamentliche Heiligtumsdienst zeigte, dass es nicht ausreichend war, das Opfertier zu schlachten – das Blut musste auch zur Anwendung kommen, indem es vom Priester in das Heiligtum getragen und mit verschiedenen Gegenständen in Berührung kam. Dieser Dienst der Versöhnung geschieht seit Pfingsten im Himmel durch Christus und auf der Erde durch den Heiligen Geist. Über die Notwendigkeit dieses über Golgatha hinausreichenden Erlösungswerkes lesen wir im Leben Jesu:

LJ 670 [Der Heilige Geist] sollte uns als eine erneuernde Kraft erfüllen, ohne die das Opfer Christi wertlos gewesen wäre

Beachten wir, wie der Heilige Geist, der die Worte jenes Buches inspiriert hat, anschließend seine eigene Aufgabe erklärt:

LJ 670 Nur durch die machtvolle Kraft der dritten Person der Gottheit konnte der Sünde widerstanden und sie überwunden werden … [Der Geist] reinigt das Herz, und durch ihn wird der Gläubige Teilhaber der göttlichen Natur. Christus hat seinen Geist als eine göttliche Kraft gegeben, um alle ererbten und anerzogenen Neigungen zum Bösen zu überwinden und seiner Gemeinde sein Wesen aufzuprägen.

Böse Neigungen zu überwinden und Jesu Wesen zu erhalten, gehen nach dem letzten Satz Hand in Hand. Durch die Gemeinschaft mit Jesus, die der Heilige Geist herstellt, werden wir befähigt, den Hang zur Sünde zu überwinden. Und durch das Überwinden von Sünde vertieft sich die Gemeinschaft mit Jesus, weil im Herzen mehr Raum für Ihn entsteht. Und je mehr Er uns ausfüllt, desto mehr wird Sein Bild in uns wiederhergestellt – bis wir durch Jesu Gnade und priesterlichen Mittlerdienst als vollständige Sieger dastehen.